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Russische Liedermacher gaben Wien-Konzert trotz Anfeindungen

Vor dem Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine und einem zunehmenden totalitären Kurs des Regimes von Wladimir Putin war es unvorstellbar gewesen, dass Legenden der offiziellen sowjetischen Massenkultur zu Staatsfeinden erklärt werden könnten. Die Zeiten haben sich jedoch verändert: Nachdem die berühmte Sängerin Alla Pugatschowa bereits 2022 in Ungnade fiel, haben sich staatliche und staatsnahe Propagandisten in den vergangenen Tagen auf Sergej Nikitin, Jahrgang 1944, und Tatjana Nikitina, Jahrgang 1945, eingeschossen. Sergej hatte wie Pugatschowa seinerzeit Lieder für den sowjetischen Kultfilm "Ironie des Schicksals" (1975) beigesteuert. Gemeinsame Konzerte mit Gattin Tatjana füllten die größten Konzertsäle der Sowjetunion und später auch Russlands.

Formaler Anlass der nunmehrigen Attacken war ein geplanter Auftritt in Montenegro gewesen, bei dem im Mai auch von Moskau als "Auslandsagenten" gebrandmarkte Künstler auftreten sollen. Unterstellt wurde, dass das Ehepaar Geld für die ukrainische Armee sammeln würde - letzteres wird im russischen Strafrecht als Landesverrat klassifiziert und mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft. Die Vorsitzende des Kulturausschusses in der russischen Staatsduma, Jelena Jampolskaja, schrieb dieser Tage auf Telegram von "verbrecherischen Absichten (des Ehepaars, Anm.) in Bezug auf Russland", die ehemals liberale Wochenzeitung "Argumente und Fakten" titelte im Internet gar mit "Das Ehepaar Nikitin ist ein Produkt der UdSSR. Aber die Barden haben sich als undankbare Schweine erwiesen."

Die Nikitins selbst erklärten vergangenen Donnerstag in einer Videobotschaft, ihre Teilnahme in Montenegro abzusagen und die ukrainische Armee nicht unterstützt zu haben. "Die russische Sprache und Russland ist unser Heimatland", betonten sie. Auf eher verstörende Weise rechtfertigen sie sogar private Aufenthalte in den USA: Diese hätten damit zu tun, dass ihr Sohn und nunmehriger Bühnenpartner Alexander dort eine Familie gegründet habe.

Keine Rede von den aktuellen Anfeindungen war am Sonntagabend indes vor knapp 300 Fans in einem seit Wochen restlos ausverkauften Saal in der Wiener Urania: Im Rahmen einer internationalen Tour zum 80. Geburtstag von Sergej gaben die Nikitins gemeinsam mit Sohn Alexander ihre größten Hits aus den Siebzigern sowie musikalische Interpretationen zeitgenössischer Gedichte.

Die Liedermacher vermieden auch nahezu gänzlich auf Kommentare zur aktuellen Situation und setzten - wie seinerzeit auch in der Sowjetunion verbreitet - auf eine "äsopische Sprache" (also eine, deren Andeutungen nur von Eingeweihten entschlüsselt werden können), die freilich auch vom russischsprachigen Publikum in Wien ausgezeichnet verstanden wurde. Als Sergej Nikitin zum Auftakt das Gedicht "Jeder trifft seine Wahl für sich selbst" von Juri Lewitanski (1922-1996) sang, ließ sich dies als Manifest für die persönliche Verantwortung auch in Kriegszeiten verstehen. Offen ließen die Musiker, auf wen sie "Teufel" bezogen haben wollten, dem laut dem Gedicht manche dienen würden.

Insbesondere positionierten sie sich mit literarhistorischen Verweisen. Ein Teil des Konzerts war etwa dem Dichter und Liedermacher Bulat Okudschawa (1924-1996) gewidmet, der am 9. Mai seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte, erinnerte Tatjana Nikitina. Schon in den letzten Jahren hatten Verweise auf diesen Geburtstag, der mit dem "Tag des Sieges" der Sowjetarmee über NS-Deutschland zusammenfällt, auch als verdeckte Kritik am zunehmend militaristischen Kult dieses Feiertags fungiert. Die Nikitins sangen aber auch Okudschawas Gedicht vom "Selbstwertgefühl", das sich ebenso auf die Hier und Jetzt beziehen ließ: Der Dichter hatte 1989 vermerkt, dass dieses Gefühl unter anderem Krieg und Propaganda zum Opfer fallen könne.

In einem Boris Pasternak (1890-1960) gewidmeten Part gaben die Musiker nicht nur Texte des Dichters, der gegen Ende seines Lebens einer Hetzjagd durch die sowjetischen Behörden ausgesetzt war, sondern auch Hommagen auf dessen Werk. So sangen sie eine Pasternak-Imitation, die der in Moskau nunmehr als "ausländischer Agent" qualifizierte Literat Dmitri Bykow als Jugendlicher verfasst hatte.

Vor allem erklangt aber die Vertonung des auf Pasternak anspielenden Antikriegsgedichts "Februar", das Schenja Berkowitsch im Februar 2023 auf Facebook veröffentlicht hatte. Die hauptberufliche Theaterregisseurin Berkowitsch gilt als eine begabtesten russischen Lyrikerinnen ihrer Generation. Seit Mai 2023 befindet sie sich in Untersuchungshaft. Ihr der Stückautorin Swetlana Petrijtschuk wird im Zusammenhang mit einem 2021 ausgezeichneten Theaterstück "Rechtfertigung von Terrorismus" vorgeworfen. "Wir hoffen noch immer. Es kann nicht sein, dass derart mit unschuldigen Frauen umgegangen wird", sagte am Sonntag Tatjana Nikitina.

Weitere explizite Anmerkungen zum Zeitgeschehen waren am Sonntag nicht zu vernehmen, und auch auf Nachfrage wollten die Nikitins nichts zur medialen Hetzjagd gegen sie sagen. Sohn Alexander verwies gegenüber der APA auf die Erklärung seiner Eltern vom Donnerstag und betonte, dass man nun abwarten werde, wie sich die Dinge weiterentwickeln würden. Unbeantwortet ließ er die Frage, ob gegen die Nikitins in Russland nunmehr ein de facto-Auftrittsverbot bestünde. Russische Medien berichteten zuletzt von diesbezüglichen Indizien - die Rede war davon, dass die Künstler aus einer Konzertankündigung gestrichen worden seien. Dass in Russland schwarze Listen für russische Musiker existieren, gilt als gesichert. Das Exilmedium "Meduza" outete kürzlich den hochrangigen Kreml-Bürokraten Aleksandr Schurawski als Verantwortlichen für diese Spielart von "Cancel culture", die nach formal geltenden russischen Gesetzen freilich illegal ist.

(Von Herwig G. Höller/APA)

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