Keine Lust auf Sex durch Antidepressiva?

Unsplash Madison Agardi

Antidepressiva und fehlende Libido: Wenn der Liebe der Sex fehlt

Immer wieder werden Antidepressiva und Libidoverlust miteinander in Verbindung gebracht. Was steckt dahinter?
Julia Deutsch

Doris* ist 24 Jahre alt und seit einem halben Jahr in einer Beziehung. Sie ist eigentlich frisch verliebt, Sex hatte sie aber das letzte Mal vor einigen Monaten. Ihre Abstinenz ist nicht freiwillig – ihr neuer Freund leidet seit Wochen an Depressionen und begann in diesem Zusammenhang mit der Einnahme von Psychopharmaka. Doris hat Angst, ihren Freund direkt darauf anzusprechen und hadert jede Nacht mit sich selbst. Immer, wenn sie mit ihm im Bett liegt und körperliche Nähe sucht, weist er sie ab und sagt, dass er sich nicht wohlfühle. Doris dreht ihrem Partner dann den Rücken zu und starrt auf die Wand. Sie ist überfordert und verzweifelt und weiß nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen soll.

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Dieser und ähnliche Fälle sind der Psychotherapeutin Mag.a Birgit Maurer nicht fremd in ihrer Liebeskummerpraxis beschäftigt sie sich häufig mit dem Verlust des Sexualtriebs und darauf folgenden Beziehungskonflikten. Ihrer professionellen Einschätzung zufolge wirken sich nämlich nicht nur die Einnahme von Antidepressiva auf die Libido von PatientInnen aus, sondern vor allem eine Depression selbst. Die Medikation, die im Idealfall Emotionen stabilisieren beziehungsweise dämpfen soll, macht aber auch vor der Lust auf Sex nicht halt: "Generell kann man sagen: Dämpfende Medikamente wirken sich ganz genau so auch auf die Libido aus."

Keine Lust auf Sex wegen Antidepressiva?

Beim Großteil der Betroffenen ist das Verlangen nach Sex aber bereits mit dem Aufkommen einer Depression stark gemindert: "Aus meiner Beobachtung ist das wirklich so. Viele Menschen sagen: 'Lust auf Sex habe ich jetzt keine.'" Dies falle in das Fachgebiet von PsychiaterInnen, die PatientInnen je nach Krankheitsbild Medikation verschreiben, die sich ebenfalls unterschiedlich auf den Sexualtrieb auswirken kann. Es sei aber auch wichtig, mögliche medizinische Ursachen vorab auszuschließen, da sich laut der Expertin zahlreiche Faktoren auf die Lust nach Sex auswirken können, wie zum Beispiel Eisenmangel oder eine Schilddrüsenerkrankung.

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Betroffene sowie ihre PartnerInnen leiden unter dem fehlenden Sexleben. Wie Mag.a Maurer erklärt, ist Sex schließlich "der Motor von Beziehungen", der entscheidende Faktor, durch den sich Partnerschaften von Freundschaften unterscheiden. "Reden und gute Freunde sein ist natürlich wichtig, aber Sexualität ist eine wichtige Säule in Liebesbeziehungen." Fehlt dieser in Folge einer Depression oder wegen der Einnahme von Antidepressiva, so kommt es oft zum Konflikt. Betroffene leiden unter Druck, schlechtem Gewissen, Scham, Wut, mitunter auch Verzweiflung. Außerdem würden laut der Expertin viele Depressions-PatientInnen und ihre PartnerInnen die Liebe sowie die Beziehung in Frage stellen beziehungsweise Zweifel an der eigenen Weiblichkeit oder Männlichkeit entwickeln. 

Auch Doris kann diese Gefühle bestätigen: "Ich liebe meinen Freund, aber ich fühle mich mit Mitte 20 wie eine alte Frau, deren sexuelle Blüte schon vorbei ist. Weiblich fühle ich mich momentan nicht. Wir haben eine intensive Freundschaft, aber mir fehlt dieser Aspekt der Beziehung sehr. Außerdem weiß ich nicht wirklich, wohin ich mit meiner sexuellen Energie soll. Ich ertappe mich, wie ich seine Freunde anstarre und schäme mich selbst dafür, wenn ich sexuelle Gedanken ihnen gegenüber habe. Aber das passiert aus einer Not heraus."

Eifersucht und Seitensprünge

In der Liebeskummerpraxis von Mag.a Maurer kommen diese Themen oft in der Paartherapie zur Sprache. Es gehe in diesem Zusammenhang nicht selten um Eifersucht und um Fremdgehen: "Wenn Sex aus der Beziehung verschwindet, dann ist das oft eine Vorstufe, dass Personen Affären beginnen. Es kommt viel öfter vor, als man eigentlich glauben würde, dass Paare jahrelang keinen Sex haben." Sexualität verschwindet außerdem nicht, sie wird nur umgelenkt.

Das können verschiedene Ventile sein wie pornografisches Material, Arbeit, Sport oder eben auch andere Menschen. Die Expertin sieht in dieser Situation ein großes Konfliktpotenzial: "In Ehen gibt es manchmal sogar EhepartnerInnen, die Sex in solchen Fällen auch einfordern, weil das ja per Gesetz so unterschrieben wurde. Das geht von der Trennung über Scheidung bis hin zu Gewalt."

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Antidepressiva können zu Potenzproblemen führen

Aber nicht nur Unlust auf Sex kann eine mögliche Nebenwirkung einer Depression und der eingehenden Einnahme von Antidepressiva sein. Es kann sogar vorkommen, dass der Sexualtrieb gesteigert beziehungsweise aufrecht erhalten wird – was auch die Expertin bestätigt, jedoch eher seltener vorkommen soll: "Manche Leute sagen, das ist das Einzige, was mir noch bleibt. Das war immer wichtig für mich und darüber möchte ich mich ausdrücken." 

Richard* (37), der bereits seit Kindertagen mit wiederkehrenden Depressionen kämpft, bestätigt das. Ohne Psychopharmaka-Medikation geht es für ihn persönlich nicht, "denn sind die weg, ist das schwarze Loch bald wieder da." Zwar fühlte auch er oft Unlust, doch problematisch ausgeprägt war diese bei ihm eher selten. Seiner Erfahrung nach bekämpfen einige Depressions-PatientInnen die innere Leere mit exzessiver Sexualität – egal ob alleine oder mit eine/r/m PartnerIn: "Um verzweifelt irgendetwas zu fühlen, um sich zumindest für kurze Zeit lebendig zu fühlen."

Und das könne er wiederum sehr gut nachempfinden. "Für mich war Sex lange Zeit vor allem ein Mittel, um mir selbst zu bestätigen, dass ich nicht eigentlich bereits innerlich tot bin – was mit dem Hinzukommen von sexuellen Problemen wie schwacher Potenz aufgrund der Psychopharmaka natürlich ein Teufelskreis ist." Denn anstatt dem Empfinden von Unlust kamen bei ihm eher körperliche Nebenwirkungen wie Potenzprobleme oder das Ausbleiben des Orgasmus zum Tragen. "Natürlich kratzt das am männlichen Ego."

Lösungsansätze für sexuelle Probleme in der Beziehung

Zurück zu Doris, die ihre aktuell sexlose Beziehung auf jeden Fall retten möchte: "Es ist vielleicht nur eine Phase und ich habe Hoffnung, dass sich die Dinge ändern werden. Aber ich muss schon ehrlich sagen, dass ich von meinem Freund nicht wirklich viel Initiative sehe in der Hinsicht. Das macht mich traurig." Für die Expertin ist der Fall klar, da es immer darum gehe, ob der Leidensdruck der Betroffenen groß genug ist, um auch Veränderung zu bewirken. Dann zeigt sich, ob beide daran arbeiten wollen oder eine Partei die Beziehung auch einfach nicht mehr möchte. 

Lösungsansätze sind laut Mag.a Maurer die medizinische und psychologische beziehungsweise psychotherapeutische Abklärung sowie die Beziehungspflege. Also: Man muss sich damit auseinandersetzen, wie es der Beziehung eigentlich geht, da Sexualität ein Ausdruck dieser ist: "Wenn die Beziehung schlecht läuft, habe ich in den meisten Fällen auch weniger Lust auf Sex." Es werde dann die Frage gestellt, ob der Sex vielleicht immer schon gefehlt hat, oder seit jeher ein schwieriges Thema war. Denn was nie da war, lasse sich auch schwer reaktivieren. Dann untersucht man, wann und wodurch dies verloren gegangen sein könnte.

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Gemeinsame Sprache der Liebe entwickeln

Eine konkrete Idee könnte es sein, wenn PartnerInnen eine gemeinsame Sprache der Sinnlichkeit, des Begehrens und der Liebe entwickeln. Dabei geht es darum, "ein sinnliches und erotisches Klima zu schaffen. Alle Sinne einzusetzen, einander anzusehen, zu riechen, zu schmecken, einander zuzuhören, zu berühren. Zeit zu zweit zu pflegen, Aktivitäten zu teilen, die miteinander Freude bringen und die Sinnlichkeit fördern, wie zum Beispiel gemeinsam kochen, Spaziergänge, ein Konzertabend. Das vernachlässigen die meisten wahrscheinlich grob. Der Alltag ist das, was wir gestalten." 

Auch das eigene Körpergefühl trage zur erotischen und sinnlichen Qualität in einer Beziehung bei: "Erst wenn ich mich selbst mag und in mir und mit mir wohlfühle, werde ich die Sinnlichkeit mit eine/r/m PartnerIn genießen können." Natürlich ist laut der Expertin auch Kommunikation sehr wichtig: "In der Beziehung verlernen viele Menschen, miteinander zu reden. In der Arbeit hat man ja auch Meetings und einen Jour-Fixe. Deshalb sollte in Beziehungen das regelmäßige Gespräch gesucht werden, um über Bedürfnisse, Wünsche und  Erwartungen zu sprechen."

Auswege aus dem Konflikt?

Wie Mag.a Maurer erklärt, scheitern einige Beziehungen an den Problemen sexueller Natur. Aber es gäbe neben hartnäckigen Fällen auch Hoffnung: eine Depression könne schließlich überwunden werden, wie zum Beispiel im Falle von einer jungen Frau, erzählt die Expertin, die durch das Zusammenspiel der Einnahme von Antidepressiva, Therapie und Sport innerhalb von einigen Monaten ihren Sexualtrieb stabilisieren konnte – auch, wenn dieser nach wie vor gedämpfter war und ist. 

Doris erwägt in der Zwischenzeit Paartherapie mit ihrem Freund, da sie den Glauben an die Beziehung noch nicht verloren hat. Dazu muss sie die unangenehmen Wahrheiten aber auf den Tisch legen: "Ich habe Angst mit ihm zu sprechen, weil ich weiß, dass er mit sehr vielen Problemen kämpft ich will ihn nicht noch zusätzlich stressen. Aber schön langsam belastet es mich so sehr, dass meine eigene psychische Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich kann nicht mehr so weitermachen."

Single-Mann Richard wiederum hält nach wie vor an "seinen" Antidepressiva fest und ist davon überzeugt, dass eine Medikation ein guter Lösungsweg aus einer Depression sein kann: "Trotz – eventueller – körperlicher Probleme würde ich bei schweren Depressionen niemals von Psychopharmaka abraten. Weil, ganz ehrlich: Besser ein vorübergehend schlaffer Penis als auf ewig eine schlaffe Seele."

*Namen von der Redaktion geändert

Wenn du mit akuten Problemen zu kämpfen hast, kannst du dich jederzeit an die Telefonseelsorge unter 142 wenden – rund um die Uhr erreichbar, kostenlos und anonym. Die Psychiatrische Soforthilfe steht ebenfalls rund um die Uhr als Not- und Krisendienst unter der Rufnummer (01) 31330 zur Verfügung. Auf der Website des Bundesverbands für Psychotherapie findet ihr noch mehr Notfallnummern für mehrere Bundesländer.

Wenn du eine Therapie in Anspruch nehmen willst:

Unkompliziert zur telefonischen Erstberatung: Außerdem gibt es eine psychotherapeutische Erstberatungs- und Info-Hotline. Sie ist ein kostenfreies, vertrauliches, professionelles und anonymes Angebot. Du suchst einen kassenfinanzierten Therapieplatz? Hier erklären wir, wie du am schnellsten zu einem Therapieplatz kommst. Die ÖH hat eine Kampagne für mentale Gesundheit von Studierenden gestartet. Mehr zu #talkaboutit findet ihr hier. Mag.a Birgit Maurer steht für Beratungen in ihrer Liebeskummerpraxis zur Verfügung.