Bücher und CD zur Serie über die Sex Pistols

(S)Ex-Pistol Steve Jones nannte seine Memoiren ""Lonely Boy"
"Indem Punk eine Tradition zerstörte, begründete er eine neue", schreibt Greil Marcus in seinem neu aufgelegten Buch "Lipstick Traces". Über diese Zerstörung berichtet Steve Jones, Gitarrist der Sex Pistoles, in seiner Biografie "Meine Sex Pistols Geschichte". Diese diente als Vorlage der TV-Serie "Pistol", die ab 28. September in Österreich auf Disney+ zu sehen ist. Schon jetzt im Handel ist das Album "The Complete Recordings". Genug Stoff also, um sich vorzubereiten.

"Eventuell war es einfach nicht unsere Bestimmung, eine ganz normale Band zu sein", schreibt Jones. Campino von den Toten Hosen, für den die Pistols "eine Explosion" waren, sieht das ähnlich: "Sie mussten innerhalb kürzester Zeit implodieren, es war kein Weg nach vorne angedacht", sagte der Sänger in einem APA-Gespräch.

"Das Gefühl der Sex Pistols war ein kurzfristiger Knall, eine Wut, die in dieser Form nie vorher und nie nachher stattgefunden hat", so Campino. "Aber es ist nicht gut, wenn Wut länger in einem drinbleibt, dann vergiftet man sich. Insofern war dieser Sex-Pistols-Entwurf etwas, was nur kurze Zeit Bestand haben durfte." Aber der Erdrutsch, den die Band auslöste, bleibe "ein Meilenstein des Rock and Roll und gehört zu den zehn besten und wichtigsten Momenten der Rock-Historie und der Jugendkultur".

Die Geschichte der Sex Pistols erzählen die überlebenden Mitglieder alle etwas anders. Jones tut das in "Lonely Boy", ohne sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Im Buch, in deutscher Übersetzung als "Meine Sex Pistols Geschichte" erschienen, beschreibt er sich schonungslos als Spanner, Kleptomanen, Sex-Süchtigen, der keine Liebesbeziehungen eingehen kann, und als (mittlerweile cleanen) Heroin-Abhängigen. Der Gitarrist schildert seinen Weg aus dem trostlosen Nachkriegs-London der Arbeiterklasse in die schrille Boutique von Vivian Westwood und Malcolm McLaren, vom missbrauchten Kind zum Bandleader, von den Skandalen und Schlägereien bis zum blutigen Ende.

Jones gelingt es gut, die Atmosphäre der Epoche wiederzugeben, ebenso die Stimmung innerhalb der dysfunktionalen Band. Der Musiker mag sich als (Anti-)Helden präsentieren, aber dabei urteilt er über sich selbst so unverblümt wie über Ex-Kollegen und über Manager McLaren. Das Buch ist eine rasante Achterbahnfahrt übersteigerter Egos. "Vielleicht hätten wir diesen Irrsinn jedoch irgendwie überstanden, wenn wie vier als Einheit aufgetreten wären", resümiert der Brite, dem heute "richtig schlecht" werde, wenn er bedenke, "welchen Scheiß" er früher abgezogen habe. Jones erzählte die perfekte Drehbuchvorlage für "Pistols", punkiger kann eine Lebensbeichte nicht sein.

"Was an dieser Musik überdauert, ist ihr Wunsch, die Welt zu verändern", urteilt Autor und Uni-Dozent Greil Marcus über die Pistols-LP "Never Mind The Bollocks". Marcus spannt in "Lipstick Traces" den Bogen von Dada zu Punk, er "durchleuchtet kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert", wie am Cover über einem Foto von Johnny Rotten vermerkt ist. Es ist weder ein Musikbuch, noch ein leicht zu konsumierendes, viel mehr eine wissenschaftliche Aufarbeitung von Aufbegehren durch Kunst. Marcus findet dabei originelle Ansätze - wenn er etwa John Lydon alias Johnny Rotten ("Ich bin der Antichrist") dem holländischen Ketzer Johann von Leyden gegenüberstellt.

"Lipstick Traces" führt von den Häretikern des Mittelalters zur literarische Bewegung Lettrismus, deren Anhänger in Tradition von Dada und Surrealismus Worte zerlegten und zu sinnfreien Lautgebilden neu zusammensetzten, von einem jungen Franzosen, der 1950 die Ostermesse in Notre-Dame störte und den Tod Gottes proklamierte zu "Anarchy In The UK". In der zwischendurch durchaus launigen Abhandlung ist die Bühne Michael Jacksons ebenso Schauplatz wie das Cabaret Voltaire. Marcus spürt einer bestimmten Sorte Dada nach: "Eine Stimme aus nadelspitz zugefeilten Zähnen, eher für Manifeste und Hitsingles geeignet als für Gedichte, ein nahezu absoluter Hass auf das eigene Hier und Jetzt, mit einem Ton, der so lange gehalten wird, bis sich Ekel in Häme verwandelt" - hallo Sex Pistols!

Die Wut zum Nachhören bietet "The Original Recordings" (Universal): Zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren wurden 20 Aufnahmen der Sex Pistols aus den Jahren 1976 bis 1978 gesammelt veröffentlicht. Die Sammlung enthält u.a. die entscheidenden Singles, Covers sowie B-Seiten auf CD und Doppel-Vinyl. Mehr Pistols-Punk geht fast nicht.

(S E R V I C E - Steve Jones mit Ben Thompson: "Meine Sex Pistols Geschichte", aus dem Englischen von Paul Fleischmann, mit einem Vorwort von Chrissie Hynde, Hannibal Verlag, Taschenbuch, 360 Seiten, 25 Euro; Greil Marcus: "Lipstick Traces", Deutsch von Hans M. Herzog und Fritz Schneider, Ventil Verlag, Taschenbuch, 496 Seiten, 30,90 Euro; www.sexpistolsofficial.com)

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