Oleg Laptev/unsplash.com

Warum sich MigrantInnen nicht für ihre Muttersprachen schämen sollten

Der Internationale Tag der Muttersprache wird heute zelebriert. Eine Initiative, die daran erinnern soll, dass die sprachlich-kulturelle Vielfalt ein Mehrwert ist. Doch nicht jede Sprache wird immer geschätzt.
Adisa Beganovic Adisa Beganovic

Als ich in den Neunzigern vor dem Krieg gegen Bosnien-Herzegowina mit meiner Familie nach Österreich flüchtete, war ich acht Jahre alt. Sprache wurde für mich zum Dauerthema. In der Volksschule in Linz konnte ich kein einziges Wort Deutsch – ich fing also von Null an. Unter der Woche hatte ich ein bis zwei Stunden Einzelunterricht, in denen ich gemeinsam mit einer Lehrerin anhand von Bildern Wörter wie "Schultasche" und "Apfel" lernte. Deutsch wurde zu meiner Obsession, da mich die neuen Namen und Ausdrücke faszinierten. Innerhalb kürzester Zeit lernte ich eine völlig neue Sprache dazu. Meine bosnische Muttersprache geriet immer mehr in den Hintergrund. In der Schule wurde ihr lediglich eine Stunde am Nachmittag im Rahmen des Muttersprachen-Unterrichts gewidmet.

Für dich ausgesucht

In dieser Einheit konnten Migranten-Kinder untereinander in ihrer Sprache kommunizieren. Da meine Volksschullehrerin streng war, durfte in der Pause nur Deutsch gesprochen werden – während des Unterrichts war nicht einmal der oberösterreichische Dialekt erlaubt. Doch zurück zum Muttersprache-Unterricht, für den ich sehr dankbar war, weil es so viele Kinder gab, mit denen ich mich in meiner Sprache unterhalten konnte. Ich war auch dankbar, weil ich in diesen (für mich kostbaren) 50 Minuten nicht wegen meines ausländischen Namens aufgefallen bin. Ich führte quasi ein Doppelleben in der Schule.

Während man in der normalen Klassengemeinschaft als Flüchtlingskind abgestempelt wurde, fand man sich im Muttersprachen-Unterricht unter Gleichgesinnten wieder. Ich schämte mich dafür, dass ich anders war und wollte eigentlich zur Klassengemeinschaft dazugehören. Meine Muttersprache entsprach in den Augen anderer wohl meinem Status in der Klasse: nicht-privilegiert. Während Laura, deren Muttersprache Spanisch war, kaum anders behandelt wurde als der Rest meiner MitschülerInnen, war ich der Sonderling der Klasse, da ich Deutsch erst in der Schule gelernt habe – Laura übrigens auch. Dass ich noch eine weitere Sprache spreche, war nie der Rede wert. Das hatte Auswirkungen auf meine Selbstwahrnehmung. 

Zur eigenen Sprache stehen

Als ich mit einer Freundin beim Spielen auf Bosnisch redete, ermahnte uns ihr Vater, dass wir besser auf Deutsch miteinander kommunizierten sollten, da es nützlicher für uns sei. Ich fühlte mich damals vor den Kopf gestoßen, da ich mich mit meiner Freundin immer in unserer Muttersprache unterhalten habe. Viele Eltern und auch LehrerInnen vermitteln den Kindern mit türkischer, bosnischer oder arabischer Sprache, dass es ausreicht, wenn sie ihre Muttersprache hinter verschlossenen Türen sprechen. Man bekommt mit auf den Weg, dass die eigene Sprache weniger Wert sei als die der Mehrheitsgesellschaft. Als Kind schämt man sich für etwas, das die Erwachsenen kreiert haben.

Kaum jemand steht hinter diesen Sprachen und stärkt das Selbstbewusstsein der Kinder. Denn sie wachsen bilingual auf, lernen noch weitere Sprachen dazu und sind mit verschiedenen kulturellen Kreisen vertraut. Stattdessen wird einem signalisiert, dass der gesellschaftliche Aufstieg und Erfolg mit prestigeträchtigeren Sprachen (wie Englisch, Französisch, Spanisch oder gar Mandarin) zusammenhängen. Dabei rückt der Status des Sprechers in den Mittelpunkt. Ein in Österreich lebender Expat aus England genießt womöglich ein höheres Ansehen in der Gesellschaft als eine geflüchtete Person aus Bosnien-Herzegowina oder Syrien. Gezwungenermaßen weigert man sich als Folge dessen, in der Öffentlichkeit in der eigenen Muttersprache zu kommunizieren – da man nicht auffallen möchte – und schaltet automatisch auf Deutsch um.

Der Muttersprache-Komplex und die damit verbundene Scham sind häufig unbegründet. Überwindet man diese nicht, wird der eigene sprachliche und kulturelle Reichtum schrumpfen. Es braucht sowohl elterliche als auch schulische Unterstützung, um den Kindern zu zeigen, dass sie zu ihrer Zweisprachigkeit stehen sollten. Dank meiner Muttersprache-Lehrerin, die mich bei einem Schulfest in der Volksschule ein bosnisches Gedicht vor meinen österreichischen MitschülerInnen und ihren Eltern vortragen ließ, fiel meine sprachliche Scheu und mit ihr eine seelische Last, die ich einige Zeit mit mir trug. Damals war es eine Überwindung für mich, aber ein wichtiges Zeichen, dass sich der Muttersprachen-Unterricht nicht nur nachmittags abseits des regulären Schulunterrichts – und damit auch abseits der Ohren der Mehrheitsgesellschaft – abspielen muss.