APA - Austria Presse Agentur

Weltenbürger der klassischen Musik: Kent Nagano wird 70

Kurz vor seinem 70. Geburtstag am 22. November ist der Dirigent Kent Nagano wieder von Konzertsaal zu Konzertsaal gereist. Erst die Saisoneröffnung an der Hamburgischen Staatsoper mit Offenbachs "Les Contes d'Hoffmann", dann Brittens "War Requiem" in der Tonhalle Zürich, die Uraufführung von Bruneau-Boulmiers Klavierkonzert "Terra Nostra" in Berlin, Messiaens "Turangalîla"-Sinfonie in der neuen Isarphilharmonie und Beethovens "Missa Solemnis" im Kölner Dom.

Wie er das alles schafft? "Musik ist eine besondere Kunstform. Sie lebt von Energie und sie gibt Energie. Energie verschwindet nicht, sondern kommt immer wieder zurück", verrät Nagano im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Die Coronazeit hat der Amerikaner mit japanischen Wurzeln zum Üben, Lesen und Batterieaufladen genutzt. "Auf meinem Klavier stapelten sich Berge von Büchern, die ich irgendwann mal lesen wollte. Jetzt liegen dort keine Bücher mehr", lacht Nagano, der stets sanft und freundlich wirkt. Zum ersten Mal habe er seine Ehefrau, die Pianistin Mari Kodama, so oft gesehen, weil sie beide keine Konzerte mehr geben konnten und in ihrer Pariser Wohnung festsaßen. "Normalerweise sehen wir uns nicht so oft. Das war ein sehr schönes Erlebnis: Frühstück, Mittagessen und Abendessen gemeinsam zu verbringen." Auch ihre Tochter Karin Kei Nagano war zufällig in Paris gestrandet.

Seit 2015 ist Nagano Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters. Zusammen mit Opernintendant Georges Delnon startete er eine neue Ära, Kritiker lobten den profilierten Neustart und Nagano, weil er die Hamburger Oper musikalisch wieder vorangebracht habe. Vom ersten Tag an habe er sich in die Hansestadt verliebt, sagt Nagano: "Die Gesellschaft, die Kultur, die musikalische Tradition." Und natürlich die Elbphilharmonie - für ihn einer der besten Konzertsäle der Welt. "Ich liebe den Saal. Er ist sehr ehrlich. Man hört alles. Das ist auch eine sehr große Herausforderung, man muss wirklich gut spielen."

Aufgewachsen ist Nagano in Morro Bay, einem kleinen Fischerdorf an der kalifornischen Küste - ohne Fernsehen, Kino und Stereoanlage. Ein engagierter Musiklehrer weckte in ihm die Leidenschaft für Musik - schon früh lernte er Klavier, Klarinette und Bratsche zu spielen. Mit acht Jahren dirigierte er den Kirchenchor in seinem Dorf. "Für uns war Musik einfach das Leben. Wir spielten auch Hausmusik. Was sollte man auch sonst machen mitten auf dem Land?", erinnert sich der begeisterte Surfer. Seitdem glaubt Nagano an die verbindende Kraft der Musik und betont immer wieder, wie wichtig Musik für jeden sei.

Nach seiner Ausbildung in den USA setzte der Dirigent, der für seine leisen Töne und seine unorthodoxe Programmauswahl bekannt ist, seine Karriere in Europa fort. Er dirigierte Werke des französischen Komponisten Olivier Messiaen oder spielte mit dem London Symphony Orchestra Orchesterwerke des anarchischen Rockmusikers Frank Zappa ein. Nach einem Studium bei Pierre Boulez und Leonard Bernstein wurde Nagano 2000 Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. Danach übernahm der Amerikaner den Posten als Musikdirektor beim Orchestre symphonique de Montréal und als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München.

Die Coronazeit hat Nagano auch genutzt, um seiner Tochter in seiner kalifornischen Heimat das Surfen beizubringen. "Das war für mich eine Rückkehr zu meinen Wurzeln, als ich ein Bub war. Ich surfe immer. Jedes Jahr. Das ist ein idealer Sport, um sich fit zu halten." Zu seinem 70. Geburtstag wünscht er sich, "dass unsere Musik so viele Menschen wie möglich erreicht". Heute sei die klassische Musik längst nicht mehr so präsent wie zu seiner Jugendzeit. "Viele junge Erwachsene wissen nicht einmal mehr, wer Mozart, Bach oder Beethoven sind."