APA - Austria Presse Agentur

EU kann ohne Türkei kein geopolitischer Akteur sein

Die Europäische Union und die Türkei brauchen nach Ansicht des ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu einander. "Die EU kann ohne die Türkei kein geopolitischer Akteur sein, im geopolitischen und wirtschaftlichen Sinne", sagte Davutoglu am Dienstag am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.

Die Türkei wiederum könne ohne die Europäische Union keine vollintegrierte Außenpolitik und wirtschaftliche Entwicklung erreichen, so Davutoglu. Wenn diese beiden Bedürfnisse zusammenpassten, gäbe es eine neue strategische Vision, erklärte er. "Wir sind keine Konkurrenten", betonte Davutoglu, der die Schaffung eines Bewusstseins für eine gemeinsame Zukunft als notwendig ansieht.

"Es gibt kein europäisches Schicksal ohne die Türkei und kein türkisches Schicksal ohne Europa", sagte er. Wenn es ein Verständnis dafür gebe, werde sich der Rest von selbst einstellen, meinte der ehemalige Ministerpräsident bei einer Veranstaltung zum Thema Geopolitik, die von dem bulgarischen Politologen Iwan Krastev geleitet und in Kooperation mit dem Bundesministerium für Landesverteidigung organisiert wurde.

Der Flüchtlingspakt zwischen der Türkei und der EU von 2016 habe auch zum Ziel gehabt, die Beziehungen wiederzubeleben. Er sei ein Set von Abkommen gewesen, zu denen auch Visaliberalisierungen gehörten, erinnerte Davutoglu. "Nachdem ich zurückgetreten bin und die Migrationsströme unter Kontrolle waren, geschah nichts weiter - als ob das Abkommen mit mir geschlossen worden wäre", bedauerte er.

Davutoglu erklärte dies damit, dass 2017 in Europa ein Wahljahr gewesen sei. Wahlen seien sehr gut für die Demokratie, aber sehr schlecht für Außenpolitik und Wirtschaft, konstatierte der Politologe. Dies habe er als Außenminister beobachtet. Um die Aufmerksamkeit der Wähler zu bekommen, würden die Politiker immer emotionaler, erklärte Davutoglu.

Die Türkei sei bei den vier kritischen Wahlen in Österreich, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland zum negativen Hauptwahlkampfthema geworden. Dasselbe sei mit Europa in der Türkei vor dem Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems nach dem Putschversuch im Juli 2016 passiert. Diese Zeit ist nach Ansicht des ehemaligen Ministerpräsidenten vorbei. 2018 habe es schon bessere und rationalere Beziehungen gegeben, nun sei es notwendig, diese weiter aufzubauen.

Die EU bleibt jedoch derzeit auf Abstand zur Türkei. Nach dem ersten Assoziierungsrat seit vier Jahren bekräftigte die Union am vergangenen Freitag, dass sie weiter keine Wiederaufnahme der auf Eis liegenden Beitrittsverhandlungen oder der Gespräche über eine Ausweitung der Zollunion mit Ankara plant.

Davutoglu zeichnete für die Türkei das Bild eines Vogels mit vier Flügeln. Ein Flügel sei die traditionelle transatlantische Verbindung mit der NATO und den USA. Ein weiterer sei die Europäische Union. Die Türkei sei trotz der Diskriminierung seitens der EU "noch immer in Europa", betonte er unter Verweis auf den Zypern-Konflikt. Der dritte Flügel seien Russland und asiatische Mächte, einschließlich China. "Russland und die Türkei haben gemeinsame Interessen - an Stabilität auf dem Balkan, am Kaukasus und Zentralasien. Wenn die beiden Länder auf einer Seite stehen, seien sie eine stabilisierende Kraft, so Davutoglu.

"Wir sind nicht für Polarisierung oder verstärkte Spannungen", erklärte der ehemalige Ministerpräsident. Die Türkei sei eine Wirtschaftsmacht und eine solche wolle immer Stabilität rund um sich. "Wir haben nie Spannungen provoziert", sagte Davutoglu und verwies stattdessen auf türkische Deeskalationsbemühungen in der Georgien-Krise 2008 und den gemeinsamen Verhandlungserfolg mit Brasilien 2010, der zum Atom-Abkommen von Teheran führte. Teheran und Regionalmächte seien der vierte Flügel. "Wenn diese vier Flügel koordiniert miteinander verbunden werden, kann dieser Vogel schneller und sicherer fliegen", sagte er.

Fragen danach, ob die Türkei Pro-EU, Pro-US, Pro-Iran oder Pro-Russland eingestellt sei, wies er grundsätzlich zurück. "In einer multidimensionalen Welt müssen wir gute Beziehungen zu allen haben", erklärte er. Diese Politik ist ein Muss für die Türkei, sagte Davutoglu. Er räumte ein, derzeit zwar keine exekutive Funktion innezuhaben, dies sei seiner Einschätzung nach jedoch die Position der Türkei.

Davutoglu war jahrelang der Chefberater des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, als dieser noch Ministerpräsident und Vorsitzender der islamisch-konservativen AKP war. Er ist Professor der Politologie und gilt als Architekt der türkischen Ostorientierung. In seinem in der Türkei viel beachteten Buch mit dem Titel "Strategische Tiefe" von 2001 betonte er, die Türkei müsse sich verstärkt den Nachbarstaaten zuwenden. Den Vorwurf des "Neo-Osmanismus" weist der Politologe von sich.

Davutoglu übernahm im August 2014 das Ministerpräsidentenamt und den AKP-Vorsitz von Erdogan, nachdem dieser vom Volk ins Präsidentenamt gewählt worden war. Zwischen den beiden Spitzenpolitikern entwickelte sich wegen der von Erdogan angestrebten Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems ein Konflikt. Im Mai 2016 kündigte Davutoglu seinen Rückzug an.