Martin Frick, Direktor des Welternährungsprogramms (WFP) für Österreich und Deutschland

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„Heute hungert eine Milliarde Menschen“

Lange ging der Anteil der an Hunger leidenden Weltbevölkerung zurück, doch seit 2016 steigen die Zahlen dramatisch an. Warum das so ist, erklärt ein Experte des Welternährungsprogramms (WFP).
Bernhard Gaul Bernhard Gaul

Die Welt ist derzeit leider nicht arm an großen, ungelösten Problemen. Übersehen wird da oft das Thema Ernährungssicherheit und Hunger. Die Annahme, dass im Zeitalter der Hochtechnologie die Weltbevölkerung zumindest mit ausreichend Nahrung versorgt wird, ist leider falsch. Warum das so ist und was das auch mit der Klimakrise zu tun hat, erklärt im KURIER-Interview der Direktor des Welternährungsprogramms (WFP) für Österreich und Deutschland, Martin Frick.

KURIER: Wie groß ist das Hungerproblem auf der Welt – und wird es besser?

Martin Frick: Es ist lange besser geworden, eigentlich haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg gesehen, dass die Zahl der Hungernden auf der Welt kontinuierlich zurückgegangen ist. Doch seit 2016 hat sich der Trend gedreht, und seit 2019 beschleunigt sich die Entwicklung zum Hunger rasant.

Von wie vielen Menschen sprechen wir, wie viele sind von Hunger betroffen?

Akut hungrig und auf Hilfe angewiesen, waren 2019 noch 135 Millionen Menschen. Heute sind es 350 Millionen. Da sieht man, wie rasant sich die Situation verschlechtert hat.

Und wie ist es bei jenen, die chronisch hungern, die nicht ausreichend Nahrung haben?

Chronisch hungrig sind weit über 800 Millionen Menschen. Ich würde da aber eher schätzen, dass die Zahl Richtung eine Milliarde geht.

Welche Regionen der Welt sind von Hunger betroffen?

Im Wesentlichen geht es um den Globalen Süden, aber nicht ausschließlich. Die erwähnten 350 Millionen, die akut an Hunger leiden, leben in 79 Staaten der Welt. Daran merkt man schon, wie groß dieses Problem ist und dass es eben nicht nur um die klassischen Hotspots geht, wo wir Hunger sehen, sondern es ein weitverbreitetes Problem ist. Beginnend in Mittelamerika, ganz Sub-Sahara und andere Teile von Afrika, der Mittelmeerraum, der Nahe und Mittlere Osten, das sind alles Gegenden, die durch die Kombination von doppelt so vielen Kriegen wie noch vor zehn Jahren und unter den Auswirkungen der Pandemie leiden.

Inwiefern hat die Covid-Pandemie Auswirkungen auf die Welternährung?

Weil so viele Volkswirtschaften einfach schwer betroffen und nun erschöpft sind. Die wirtschaftliche Erschöpfung spiegelt sich auch in Inflationszahlen. Und nicht zuletzt wirkt der Klimawandel, der jedes Jahr noch stärker zu bemerken ist. All das hat dazu geführt, dass in diesen Ländern die Situation schwierig ist.

Wie ist die Situation am Horn von Afrika, wo es seit mehreren Jahren nicht mehr geregnet hat?

Am Horn, mit Ländern wie Somalia, Äthiopien, Dschibuti und Eritrea, haben wir die schlimmste Trockenheit seit vier Jahrzehnten. Hier in Ostafrika sind deswegen 22 Millionen Menschen zusätzlich akut von Hunger bedroht.

Wie hat der Ukraine-Krieg die Situation des Welthungers noch weiter verschärft?

Im Dezember 2021 waren wir bei 276 Millionen Menschen, die akut Hunger leiden, schon da sprachen wir von einer humanitären Notlage. Mit Beginn des Ukraine-Kriegs ist über Nacht der fünftgrößte Weizenexporteur und der zweitgrößte Sonnenblumenölexporteur der Welt vom Markt genommen worden. Das hat kurzfristig zu einer Verdoppelung der Getreidepreise geführt und sehr viele Länder, die von ukrainischem Weizenimporten abhängig sind, in eine extrem schwierige Situation getrieben. Der Libanon bezog 80 Prozent seines Weizens aus der Ukraine.

Als Ursache für Hunger gibt es die drei K: Krieg, Klima und Kosten. Das heißt, auch die höheren Kosten waren ein Treiber?

Ich erkläre das anhand eines Beispiels. Wir haben beim World Food Programm 2019 ungefähr 1.000 Dollar für den Transport eines Containers bezahlt. Heute kostet ein Container 4.000 Dollar. Somit betrifft uns das als Welternährungsprogramm, weil wir mit der gleichen Summe Geld weniger Menschen erreichen können.

Jetzt leben wir im Globalen Norden in sehr wohlhabenden Staaten, die auch das WFP unterstützen. Können sie allen Menschen, die an Hunger leiden, helfen?

Nein, wir werden nicht alle abdecken können. Wir haben dieses Jahr enorme Zuwendungen erhalten, aus zwei Quellen bekommen wir knapp zwei Drittel unseres Budgets: Von den USA haben wir rund fünf Milliarden Dollar bekommen, von Deutschland werden es 1,7 Milliarden Euro sein. Dann gibt es weitere hundert Staaten, die uns Geld geben. Österreich hat seinen Beitrag zuletzt wesentlich erhöht. Damit versuchen wir, wenigstens die ärgste Not zu lindern.

Wie viele Menschen können Sie ernähren?

Wir wollen bis Ende des Jahres 160 Millionen Menschen erreicht haben. Wir müssen also priorisieren, schwangere Frauen, stillende Mütter, Kinder versuchen wir mit nahrhaften Lebensmitteln zu versorgen, auch um Langzeitschäden durch Unterernährung vermeiden zu können.

Aber was brauchen Sie als Welternährungsprogramm? Würde eine simple Verdoppelung der Gelder denn ausreichen?

Das eine ist die humanitäre Hilfe. Wenn es so weiter geht, werden wir wohl mehr Geld brauchen. Mittel- und langfristig müssen wir ran an die grundlegenden Probleme, müssen an die Ernährungssysteme dieser Staaten, müssen wir in Afrika wieder mehr Lebensmittel für den afrikanischen Markt produzieren, müssen die Verluste nach den Ernten reduzieren, etwa weil zu wenig transportiert werden kann und weil es keine Kühlketten und keine Lebensmittelverarbeitung gibt. Da müssen wir ansetzen, sonst wird die Anzahl jener Menschen, die Hilfe benötigen, nicht mehr unter Kontrolle zu bringen sein.

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