Helmut Simon/ Erika Simon

Gletscherforscher wollen die Geschichte Ötzis umschreiben

Ein anderes Sterbedatum und eine Leiche, die über Jahrhunderte einfror und wieder auftaute? Neue Erkenntnisse zum Eismann wecken Widerspruch.
Susanne Mauthner-Weber Susanne Mauthner-Weber

Irgendwie hatte man das Gefühl, dass die Forschung Ötzi bereits sämtliche Geheimnisse entrissen hat: Sein Alter (53), sein Gewicht (53 kg), seine Leiden (Karies und Parodontitis, Gallenstein, Würmer, Laktoseintoleranz, Schnarchen, Fußpilz und Arteriosklerose) und sein Outfit (Lendenschurz und Leggings aus Ziegenleder, Mantel aus Ziegenfell, Umhang aus Gras, Mütze aus Bärenfell, Schuhe aus Hirschleder, gepolstert mit Heu). Die letzte Mahlzeit (Tiroler Speck vom Steinbock und Hirsch, Apfel, Brot aus Emmer, Einkorn und Gerste) nicht zu vergessen.

Jetzt aber lässt die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ein wenig vollmundig wissen: "Die offizielle Geschichte der Eismumie muss teilweise umgeschrieben werden."

Eine neue glaziologische Untersuchung kommt zum Schluss, "dass die ursprüngliche Erklärung, wie Ötzi sich so gut erhalten konnte, dem aktuellen Stand der Forschung nicht standhält".

Was ist passiert?

Wenn es eine Forschergruppe gibt, die sich bisher noch unzureichend über den Eismann hergemacht hatte, sind es tatsächlich die Gletscherforscher. Wobei Ötzis Geschichte gerade ohne Eis, Schnee und Klimawandel nicht denkbar wäre: Kurz nach dem Auffinden der überraschend alten und gut erhaltenen Mumie versuchte sich der österreichische Archäologe Konrad Spindler an einer ersten Erklärung: Ötzi sei im Herbst mit beschädigter Ausrüstung auf den Pass geflohen und dann in der schneefreien Schlucht, in der seine Überreste gefunden wurden, erfroren. Der Körper und die dazugehörenden Überreste wurden danach schnell von Eis bedeckt und ruhten später unter einem sich bewegenden Gletscher. Bis der 1991 wieder abschmolz.

Die Konservierung von Ötzi wird zudem als Beleg für das plötzliche Abkühlen des Klimas um die Zeit von Ötzis Tod gewertet.

"Und seit damals köchelt das Ötzi-Thema", sagt die Studienautorin Andrea Fischer, Glaziologin am Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW. Allerdings fehlten glaziologische Daten noch. Denn: "1991 hat die Welt aus Sicht des Gletscherforschers ganz anders ausgesehen. Es gab nur ein Jahr mit extrem starker Schmelze bis in die Gipfelregionen. Mittlerweile ist das Normalzustand."

Der Fundort Tisenjochs 1989. Heute ist die Fundstelle eisfrei

Gernot Patzelt

Das heißt: 2022 können die Wissenschafter viel besser einschätzen, was damals passiert ist, denn sie kennen den Gletscherschwund und haben gleichzeitig Aufzeichnungen aus der Kleinen Eiszeit im 19. Jahrhundert, als es einen Gletscherhöchststand gab. Fischer: "So kann man sich besser vorstellen, wie die Wiedervergletscherung ausgeschaut hat, die das 'Im-Eis-konserviert-Sein' von Ötzi für Jahrtausende erst ermöglicht hat."

Heute ist Fischer sicher: Ja, es gab vor Ötzi günstige Lebensbedingungen in den Alpen, die Wiedervergletscherung hatte aber bereits einige 100 Jahre ehe Ötzi gestorben ist, begonnen. "Und viel länger gedauert hat sie auch. Also nicht: Es schneit einmal und dann ist er für die nächsten Jahrtausende weg", erklärt die Gletscherforscherin.

Glaziologin Andrea Fischer im Gebirge.

Glaziologin Andrea Fischer erforscht, wie sich Gletscher verändern.

APA/AFP/KERSTIN JOENSSON

Es dürfte eine Prozess gewesen sein und Jahrhunderte gedauert haben, bis er dann nicht mehr aufgetaut ist.

Andrea Fischer

Ötzi wurde also nicht, wie bisher angenommen, sofort und dauerhaft unter Eis begraben.

Das hatte auch Einfluss auf seine Gerätschaften, denn seine Artefakte wurden in den ersten 1.500 Jahren nach seinem Tod immer wieder durch Schmelzprozesse freigelegt.

"Keine Kampfspuren" am Bogen

Gernot Patzelt

Vergleiche mit anderen nacheiszeitlichen archäologischen Stätten in Norwegen hätten jetzt ergeben, dass die Schäden an den Artefakten ganz typisch und wahrscheinlich auf natürliche Prozesse an der Fundstelle zurückzuführen seien – und nicht auf einen Kampf.

Auf die Frage, ob sie die Mordgeschichte ebenfalls in Zweifel ziehe, meint Fischer lachend: "Nein, die Pfeilspitze ist nicht verschwunden."

Anderer Todeszeitpunkt?

Der Todeszeitpunkt ist für das Wissenschafter-Team aber sehr wohl ein Thema: "Sein Leichnam ruhte wahrscheinlich im bzw. auf dem Schnee des Frühlings oder Frühsommers", schreiben die Wissenschafter im Fachartikel in The Holocene. Ötzi starb also im frühen Frühling oder Sommer auf dem Schnee, nicht im Herbst. 

Nicht wirklich neu

Albert Zink, der wichtigste Ötzi-Forscher und Leiter des Instituts für Mumienforschung in Bozen, den der KURIER mit den neuen Erkenntnissen konfrontierte, meint: "Ein interessanter Ansatz, denn die klimatischen Verhältnisse zu Ötzis Zeiten waren bisher eine offene Frage."

Ein paar Dinge seinen aber nicht wirklich neu: Etwa, dass Ötzi im Frühjahr starb, war nach einer Pollenanalyse seit Jahren klar. "Auch hat schon lange niemand mehr behauptet, Ötzi sei erfroren. Ich habe den Eindruck, dass die Kollegen zu sehr auf alte Erkenntnisse Bezug nehmen. Und dass sie ihre Ergebnisse auf Sensation getrimmt haben, was meiner Meinung nach gar nicht nötig gewesen wäre."

Schließlich ist Ötzi so oder so ein wichtiger Klimaindikator.

Und was mögliche Sensationen betrifft: Nach den neuen glaziologischen Erkenntnissen schätzen die Forscher die Chancen für weitere Eismumien als gut ein. Fischer kennt mittlerweile viele potenzielle Fundstellen in altem Eis, die auch besser überwacht werden. Denn das alte Eis werde in den nächsten zwei Jahrzehnten schmelzen: "Alles, was da verborgen ist, kommt heraus, man muss es nur rechtzeitig finden."

KURIER, Grafik

Info: Die Studie von Forschern von ÖAW, dem Archäologischen Dienst des Kantons Graubünden, der Norwegian University of Science and Technology, der Universität Bergen und der Oppland County Administration ist im Fachjournal The Holocene