Regisseurin Mortezai über ihren Film "Joy"

Die Regisseurin kannte die nigerianische Community im Vorfeld nicht
Sudabeh Mortezai nimmt sich in ihrem zweiten Spielfilm "Joy" dem schweren Thema der Prostitution von Nigerianerinnen in Österreich an. Im Rahmen der Viennale 2018 sprach die Österreicherin mit der APA über ihren Schock während der Recherche, ihr Ankommen im eigenen Stil und darüber, wie sie gelernt hat, Babys loszulassen.

APA: Ihre Idee zu "Joy" entstand schon beim Dreh zu "Macondo"?

Sudabeh Mortezai: Damals ist bei mir der Wunsch entstanden, mit Menschen aus Nigeria zu arbeiten, weil die als Statisten in einer Szene von "Macondo" so wunderbar gespielt haben. Als ich dann nach einer neuen Idee für einen Film gesucht habe, habe ich mich daran wieder erinnert, worauf ich zu recherchieren begonnen habe.

APA: Ihr Ausgangspunkt war gar nicht der Wunsch, einen Film über Prostitution zu machen?

Mortezai: Es interessiert mich, was unter unseren Nasen in der Stadt passiert. Man trifft die Leute auf der Straße, in der Schule, aber man kennt sich praktisch nicht, weiß nichts voneinander. Ich kannte die nigerianische Community im Vorfeld nicht und musste praktisch alles neu entdecken. Und dann stößt man sehr schnell auf das Thema Frauenhandel.

APA: Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie für einen Dokumentar- oder einen Spielfilm recherchieren?

Mortezai: Am Beginn mache ich da überhaupt keinen Unterschied. Und für mich ist wichtig, dass ich an die Menschen ohne Vorurteil, total unvoreingenommen herangehe und mich einlasse. Sonst würde ich ja auch nichts lernen. Das wäre langweilig. Dieses Thema war für mich total schockierend als Frau, wenn man liest, dass da Frauen Frauen ausbeuten. Die Madames, also die Zuhälterinnen, waren ja alle selbst einmal Opfer von Menschenhandel, die dann den Spieß umgedreht haben. Da ist es schwer, nicht sofort ein empörtes Urteil zu haben. Aber ich versuche trotzdem, offen zu bleiben.

APA: Dass "Joy" insofern ein "Frauenfilm" ist, dass er beinahe ohne Männer auskommt, war ein bewusster Plan oder hat sich aus der realen Situation ergeben?

Mortezai: Das hat sich aus der Realität ergeben. Männer spielen hier eine sehr kleine Rolle. Ich hätte den Freiern mehr Raum geben können, aber es war eine bewusste Entscheidung, das nicht zu tun. Aber was soll ein "Frauenfilm" überhaupt sein? Hoffentlich kommen wir endlich weg von diesen Kategorien und wir Regisseuren werden so präsent, dass wir nicht unter "Frauenfilm" laufen.

APA: Dass Sie hier einen Spiel- und keinen Dokumentarfilm machen würden, stand für Sie fest?

Mortezai: Ich würde nie eine Doku zu dem Thema machen! Ich würde die Frauen nie in diese Situation bringen wollen. Beim Spielfilm hatte ich viel mehr künstlerische Freiheiten. So sind ja viele reale Geschichten in dieser einen kondensiert.

APA: Haben Sie sich generell vom Dokugenre verabschiedet?

Mortezai: Ich würde nicht sagen, dass ich nie mehr einen Dokumentarfilm machen würde, wenn das Thema passt. Aber ich habe momentan das Gefühl, dass ich meinen Stil gefunden habe und weiß, wie ich arbeiten möchte. Ich bin bei meiner Arbeitsweise angekommen.

APA: Weshalb tragen Ihre Hauptfiguren meist die Namen der realen Schauspieler?

Mortezai: Diese klingenden Namen wie Joy oder Hope sind sehr üblich in Nigeria. Und ich habe die Entscheidung, dass der Film "Joy" heißen wird, vor dem Casting getroffen. Aber Joy Anwulika Alphonsus (als Hauptdarstellerin, Anm.) meint immer, dass es für sie ein Zeichen war. Ich finde es aber insgesamt sehr angenehm, dass man - wenn man mit Laien arbeitet - die Namen beibehält, weil es dann keine Versprecher am Set gibt.

APA: Sie haben auch bei "Joy" viel mit Improvisation gearbeitet. Wie läuft das konkret am Set ab?

Mortezai: Ich habe ein Drehbuch mit klaren Szenen und einer klaren Dramaturgie. Ich gebe den Darstellern aber nicht das Drehbuch zu lesen, und wir proben auch nicht - das nähme die Spontanität. Es würde keinen Sinn ergeben, wenn sie wüssten, was am Ende des Films passiert. Wir wissen ja auch im Leben nicht, wie unsere Geschichte ausgeht. Sonst würden wir anders handeln. Die Dialoge schreibe ich auch nicht aus. Die Darstellerinnen sollen in der Szene zueinander finden, weshalb wir auch chronologisch gedreht haben. Das hat auch für mich als Regisseurin den Vorteil, dass der Film vor unseren Augen entsteht. Und wenn sich das nicht richtig anfühlt, schreibe ich zwischen zwei Drehtagen noch schnell eine Szene.

APA: Was ist Ihr Ziel bei einem Film? Was wollen Sie erreichen?

Mortezai: Mein Ziel ist, dass sich die Zuschauer komplett in eine Figur hineinversetzen müssen. Prostitution wird sonst schnell ein Thema bei dem man mit Zahlen operiert. Ich will die Perspektive von Menschen am Rande der Gesellschaft übernehmen, über die man sonst immer nur spricht. Es geht darum, der gesichtslosen Masse ein Gesicht zu geben. Der Zuschauer soll das selbst miterleben können, wenn man sich einlässt auf meinen Film. Zuschauer sind erwachsene Menschen - da muss ich auch kein Mitleid haben. (lacht)

APA: Fällt es Ihnen leicht, einen Film in die Freiheit - sprich zum Publikum - zu entlassen?

Mortezai: Ich habe das gelernt. Es ist wirklich so, als würde man ein Baby loslassen. Schließlich hat man drei, vier Jahre lang ja an nichts anderes gedacht. Aber inzwischen kann ich das.

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