APA - Austria Presse Agentur

Wettlauf mit Adipositas und Diabetes

Weltweit läuft eine Diabetes-Lawine mit Adipositas als treibende Kraft. Im Jahr 2000 waren 4,6 Prozent der Erwachsenen zuckerkrank, derzeit zehn Prozent mit 530 Millionen Betroffenen. "Wir müssen versuchen, die Krankheit zu verhüten, womöglich gar zu heilen", sagte jetzt Peter Kurtzhals, Wissenschafts-Chefberater des auf Diabetes spezialisierten Pharmakonzerns Novo Nordisk, in einem Hintergrundgespräch mit der APA. Potenziell revolutionäre Therapien sollen helfen.

"Für das Jahr 2045 lauten die Prognosen auf weltweit 780 Millionen Diabetiker oder 12,5 Prozent der Menschen (20 bis 79 Jahre; Anm.). Dabei unterliegen Viele einer Fehleinschätzung. Diabetes ist keine leichte Erkrankung. Typ-2-Diabetes (90 bis 95 Prozent aller Fälle; Anm.) steigert das Risiko für einen Herzinfarkt auf das Niveau eines Menschen, der schon seinen ersten Infarkt gehabt hat", erklärte Kurtzhals.

Der primär auf genetischen Ursachen beruhende Typ-1-Diabetes (ehemals "juveniler Diabetes") mit sofort bei Ausbruch der Erkrankung entstehender Insulinabhängigkeit weltweit macht nur fünf bis zehn Prozent der Erkrankungen aus. Warum die Zahl der Betroffenen seit Jahren ansteigt, ist nicht bekannt. Viel dramatischer ist die Entwicklung aber beim Typ-2-Diabetes, in den die Betroffenen langsam über die Entgleisung ihres Stoffwechsels hineinrutschen und bei dem zunächst noch nicht Insulin injiziert werden muss (ehemals "Altersdiabetes").

Maßgeblich treibender Faktor ist hier die dramatische Zunahme von Übergewicht und Adipositas. Der Experte: "Adipositas und Diabetes sind zwar zwei jeweils eigene Erkrankungen, aber mit einer großen gemeinsamen Schnittfläche. Wenn bei einem Menschen der Body-Mass-Index (BMI) von 22 (im Bereich des Normalgewichts; Anm.) auf 35 steigt (Adipositas ab BMI 30; Anm.), erhöht sich das Risiko für den Ausbruch von Diabetes um das Hundertfache. Nimmt mein Mensch mit hundert Kilogramm Körpergewicht um fünf Prozent ab, sinkt das Diabetesrisiko bereits um 25 Prozent. Auf der anderen Seite steigert Diabetes die Gesamtsterblichkeit (alle Ursachen; Anm.) um 15 Prozent, die Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht sich um 14 Prozent."

Ein schlecht eingestellter Diabetes mit zu hohen Blutzuckerwerten, erhöhten Blutfettwerte (Cholesterin), Hypertonie etc. ist buchstäblich ein tödlicher Mix. Beim Blutzucker gilt der sogenannte HbA1c-Wert als Zeichen der Zuckerbelastung der roten Blutkörperchen mittelfristig als aussagekräftigster Parameter. Kurtzhals: "Ein Prozentpunkt weniger HbA1c reduziert bei Diabetikern die Schlaganfallgefahr um zwölf Prozent, die für Herzschwäche um 16 Prozent, für Herzinfarkt um 16 Prozent. Es kommt zu um 43 Prozent weniger Beinamputationen. Die Gesamtmortalität sinkt um 14 Prozent, die Sterblichkeit durch Diabetes um 21 Prozent." Ein HbA1c-Wert von 6,5 Prozent würde einer sehr guten Blutzuckereinstellung entsprechen.

1921, also vor hundert Jahren, wurde Insulin und damit die erste Diabetes-Therapie entdeckt. Für alle Typ-1-Diabetiker und für Typ-2-Zuckerkranke, bei denen die Blutglukosespiegel nicht mehr mit anderen Medikamenten ausreichend kontrolliert werden können, sind die modernen Insuline bzw. durch Modifikation entstandene Insulinanaloga von entscheidender Bedeutung. Es gibt mittlerweile viele verschiedene Insuline für eine zunehmend personalisiertere Therapie: von derzeit bis zu 24 Stunden wirkenden Präparaten bis zu quasi "Dessert"-Insulinen mit schnellem Wirkungseintritt bei Anwendung unmittelbar nach einer Mahlzeit.

Schon mittelfristig könnte sich eine wichtige neue Option für Diabetiker bieten. Kurtzhals: "Wir sind in der Phase-III (große Wirksamkeits-/Zulassungsstudie; Anm.) bei der Entwicklung eines Insulins, das nur noch einmal in der Woche injiziert werden muss." Geplant ist dieses Medikament zunächst für Typ-2-Diabetiker im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium als Blutzucker senkende Basistherapie. "Wir arbeiten hier auch mit dem Grazer Diabetologen Thomas Pieber (MedUni; Anm.) zusammen", sagte der dänische Experte.

In Graz werden in einer Kooperation zwischen den Diabetologen und dem dänischen Konzern auch frühe Phase-I-Untersuchungen durchgeführt, die den Beweis für die Machbarkeit eines neuen Wirkprinzips erbringen sollen. Ein potenziell revolutionäres Projekt, wie Kurtzhals schilderte: "Wir arbeiten an einem Blutzucker-sensitiven Insulin und haben seit Oktober 2020 eine Phase-I-Studie mit dem Beweis der Machbarkeit durchgeführt." Im Mittelpunkt steht ein Insulin, bei dem sich das Protein ab einem gewissen Blutzuckerspiegel öffnet und seine Wirkung entfaltet. Sinkt die Glukosekonzentration, endet der Effekt dieses Insulins. Die Umsetzung eines solchen Prinzips wäre eine Revolution in der Diabetestherapie.

In der Prävention von Typ-2-Diabetes und für eine sichere Blutzucker senkende und gleichzeitig Gewicht senkende Therapie sind in jüngster Zeit sogenannte GLP-1-Rezeptoragonisten als mittlerweile bereits einmal wöchentlich per Injektion unter die Haut bzw. in Zukunft auch oral verfügbare Arzneimittel in den Mittelpunkt gerückt. Mit einer Dosierung von einem Milligramm des Wirkstoffes Semaglutid pro Woche (subkutane Injektion) wurde in klinischen Studien bei 67 bis 79 Prozent der Patienten mit schlecht eingestelltem Diabetes eine Reduktion des HbA1c-Wertes um 1,5 bis 1,8 Prozentpunkte erreicht. Der Wirkstoff ist - so wie eine Vorläufersubstanz (Liraglutid) - für die Therapie des Diabetes vom Typ-2 in Österreich verschreibbar, allerdings auf Kassenrezept erst ab einem HbA1c-Wert von mehr als acht Prozent trotz Behandlung mit anderen Medikamenten.

Gerade durch Semaglutid soll aber auch Adipösen beim Abnehmen geholfen werden. Kurtzhals: "Mit 2,4 Milligramm Semaglutid als einmal wöchentliche subkutane Injektion kam es über zwei Jahre hinweg zu einer Gewichtsabnahme um 16,7 Prozent." 40 Prozent der Probanden in der Studie mit einem mittleren Körpergewicht von 106 Kilogramm nahmen sogar um 20 Prozent und mehr ihres Gewichts ab.

Erst am vergangenen Donnerstag hat das Expertengremium für Humanarzneimitteln der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) das Medikament für die EU-Zulassung in der Adipositastherapie empfohlen. In Österreich könnte das Arzneimittel ab Ende 2022 zur Verfügung stehen. In Zukunft soll es auch eine oral einnehmbare Version geben. Die Beherrschung der Adipositas dürfte jedenfalls auch einen Schlüssel zur Prävention von Typ-2-Diabetes darstellen, wenn man die Korrelation zwischen dem Auftreten beider Erkrankungen betrachtet.