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Marokko: Tanger ist eine Stadt zwischen zwei Welten

Tanger ist eine spannende Alternative zum Klassiker Marrakesch. Spannend und authentisch ist das Labyrinth der Altstadtgassen - und die Begegnungen mit den Menschen dort.

Nur Mut! Der Neugier folgen, dem Instinkt und den Gerüchen, sich verlieren und treiben lassen durch das Wirrwarr an Gassen. Das ist die richtige Herangehensweise für Tanger. Das altstädtische Herz pulsiert einerseits in der Uptown Kasbah und andererseits in der Downtown Medina. Da, wo sich Häuserwürfel asymmetrisch übereinander stapeln, Wäscheleinen von Fenstergitter zu Fenstergitter spannen, das Licht auf Pflanzengehänge fällt.

Bougainvilleen umkränzen Fassaden, Katzen dösen auf Bänken. Wände tragen Farbschichten von Türkis bis Gelb, während andere kalkweiß in der Sonne reflektieren. Vielfach blättert der Putz.

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Die marokkanische Küstenstadt ist eine Wucht, vor allem für die Sinne. Man bewegt sich durch labyrinthische Gassen. Menschen verschwinden im Dunkel einer Backstube, in winzigen Schneidereien. Hier plätschert ein Brunnen, dort knickt eine Treppe ab.

Dann steht man vor dem Grabbau des Entdeckers und Abenteurers Ibn Battuta, der Mitte des 14. Jahrhunderts lebte. Der Abenteurer - auch als "Marco Polo Marokkos" bezeichnet - stammte von hier, reiste durch Syrien und Persien, von Südrussland bis China, legte Zehntausende Kilometer zurück. Tangers Flughafen trägt seinen Namen.

Der Zugang zum Grab ist verschlossen, so scheint es. Schade. Ein Ruckeln an der Tür. Nichts. Noch eins. Plötzlich öffnet sich die Tür und man schaut in die erblindeten Augen eines alten Mannes. Der Wächter gewährt Einblick in den Raum, verlangt aber ein Bakschisch, ein Trinkgeld. Prüfend wiegt er das Geldstück in der Hand. Dann murmelt er etwas und verschließt das Allerheiligste wieder.

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Einer der unbekannteren Söhne Tangers heißt Aziz Begdouri. In der Kasbah hat sich der 50-Jährige den Traum eines Boutique-Hotels erfüllt. "Wir leben hier zwischen zwei Welten", sagt er über seine Heimatstadt, die im nördlichsten Nordafrika an der Grenze zu Europa liegt, an der Schnittstelle zwischen Atlantik und Mittelmeer.

Das erklärt die strategische Lage, die lange Geschichte als Hafen- und Handelsstützpunkt, die wechselnde Herrschaft. Begdouri kommt immer wieder auf diesen "Schmelztiegel" zu sprechen, auf diesen "Mix aus Menschen, Kulturen, Architektur und religiösen Hintergründen". "Wir leben friedlich zusammen", sagt er.

In Tanger, ruft Begdouri ins Gedächtnis, habe Henri Matisse gemalt und Barbara Hutton gelebt, eine Kaufhauserbin und vormals die reichste Frau der Welt. Die Stadt sei traditionell weltoffen und liberal gewesen, die schwulen Schriftsteller Tennessee Williams, William S. Burroughs und Truman Capote kamen nach Tanger.

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Im Vergleich zu seiner Kindheit und Jugend hat Begdouri allerdings einen befremdlichen Unterschied ausgemacht, einen Rückschritt, wie er sagt. "Früher gingen wir im Winter zum Fußballspielen an den Strand und im Sommer baden, in Shorts und Bikinis, auch Marokkanerinnen", erinnert sich der Hotelbesitzer. Heute sehe er viel mehr Kleidung, was an der Vielzahl an Zugezogenen aus konservativeren Landesteilen liegt. Mittlerweile hat Tanger knapp eine Million Einwohner.

Ein deutscher Hotelierskollege, Jürgen Leinen, fühlt sich auch dank seiner marokkanischen Frau Farida in der Stadt verwurzelt. Er berichtet schmunzelnd von einer Krankheit, die er "Tangeritis" nennt: "Die kriegt man, wenn man sich von der Magie Tangers verzücken lässt", sagt Leinen. "Vorsicht, einmal mit dem Virus infiziert, muss man immer wieder zurückkommen." Sein Leben hier sei ruhig und entspannt. Junge Einheimische empfinden das ganz anders.

Yahya Radi und seine Kumpels Outmane Rammach und Salaheddine Gritit, Studenten und Hobbymusiker, alle um die zwanzig, treffen sich oft auf einer Caféterrasse zu Füßen der Medina. Dann trinken sie Minztee, pusten Rauchwolken in den Abendhimmel und sinnieren über das Leben.

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"Nach Europa will doch jeder Marokkaner", sagt Yahya und deutet mit einer Armbewegung in jene Richtung, in der sich die Konturen der Südküste Spaniens abzeichnen. "Klar will ich da auch hin", pflichtet ihm Salaheddine bei. "Aber nicht schwimmend oder auf einem Boot versteckt, sondern ganz legal."

Yayha beklagt den Mangel an Möglichkeiten für junge Menschen und auch den Mangel an Freiheit – und führt, ohne es zu wissen, die Worte der staatlichen Touristenbroschüre ad adsurdum. "Ein Gefühl von Freiheit, die in der milden Luft fließt wie der Duft der Orangenblüte", heißt es darin über Tanger. Dieses Gefühl bleibt Reisenden vorbehalten.

Zerstreuung und Zuflucht finden die Freunde in der Musik. Sie wollen eine Band gründen und komponieren gemeinsam Lieder auf Englisch. "Damit schaffen wir uns unsere eigene Welt", sagt Outmane. "Aber ohne schlechte Energie, bei uns gibt's nur gute Schwingungen."

Outmane stammt aus einer muslimischen Familie. Dass er "geformt" wurde, ein Moslem zu sein, das störe ihn. Er befinde sich in einer Reflexionsphase. "Menschen sollten nicht nach ihrer Religion beurteilt werden", fügt er noch hinzu.

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Plötzlich ist Houda el Idrissi da, eine Kameradin, Abiturientin, 19. Sie pafft wie ein Schlot, trinkt manchmal auch, wie sie einräumt. Ein Kopftuch trägt sie nicht, lackiert sind die Fingernägel. Alleine das sei ein Kampf im familiären Umfeld, doch selbstbewusst stellt sie klar: "Ich muss ich sein." Soweit zu gehen, in der Öffentlichkeit Shorts zu tragen, will sie aber nicht. Die trage sie nur Zuhause.

Überschwänglich in ihren Beschreibungen Tangers waren seit jeher vor allem die auswärtigen Besucher. US-Literat Paul Bowles (1910-1999) "liebte" diese Stadt, in der er lange Zeit seines Lebens verbrachte. Und der französische Maler Eugène Delacroix (1798-1863) fühlte sich beim Unterwegssein in Tanger wie jemand, "der träumt und der Dinge sieht und Angst hat, dass sie ihm entkommen."

Es ist der stete Strom an bunten Alltagsbildern, der mitreißt: Freiluftbasare, Straßenhändler mit Eiern, Scheren, Kämmen, Teekannen, Hühnerfutter und, gebrauchten Schuhen. Es riecht nach Minze, Gewürzen und Leder. Ein Motorradkarren zwängt sich durch die Enge. Eine Frau trägt Henna-Bemalung auf, ein Junge rotzt herzhaft aus.

In der Rue de la Kasbah steht Grillmeister Hassan Metmari in seinem Restaurant am Rost und tischt Spießchen auf. Nahe der Hauptmoschee der Medina schnibbelt Frisör Mohammed Hamza Salmoun bis spät in den Abend hinein. Menschen füllen die Stadt, auf die der Reisende seine Sehnsüchte projiziert, mit Namen und Gesichter.

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Das gilt auch für Abdelarahim Bakkali. Sein Reich ist die Fischmarkthalle. Hier verkauft er zum Kilopreis von umgerechnet zwanzig Euro seine Entenmuscheln, die in Spanien mehr als doppelt so viel kosteten, wie er sagt. Mit ihrer Ästhetik können Entenmuscheln nicht punkten. Eher sehen sie aus wie abgehackte Schildkrötenfüßchen.

Das Muschelsammeln an den Klippen ist ein lebensgefährlicher Job. Wie zum Beweis streckt Bakkali seine geschundenen Hände aus. Hinter ihm wird gerade Frischware abgeladen: Schwertfische, gefolgt von einem kapitalen Hammerhai und säckeweise Eis.

Übergangslos setzt sich das Markttreiben mit der Fleischsektion fort. Hähne baumeln kopfabwärts, Rindsfüße hängen an Haken. Anderswo türmen sich Fladenbrote und Olivenberge auf. Um einen Hinterhof reihen sich Weberwerkstätten. Eine gehört Mohamed Agoueiz, dem ein zweiköpfiges Team zur Fertigung von Dschellabas untersteht, wollenen Männer- und Frauengewänder, landestypische Tracht im Norden Afrikas.

Artefakte der Geschichte verwahren der museale Bau der Amerikanischen Gesandtschaft und der Palastkomplex Dar al-Makhzen, wo kunstvolle Zedernholzdecken, Innenhöfe und Stuckarabesken begeistern - da geraten die Exponate zu den mediterranen Kulturen zur Nebensache.

Ins Jetzt katapultieren die Promenaden am Stadtstrand, der Sporthafen, die restaurierte Kinothek am Platz Grand Zocco. Drinnen gibt es Alkoholausschank, draußen auf der Terrasse nicht.

Am Ende des Besuchs geht noch einmal in die Altstadt von Tanger, zurück zu Aziz Begdouri: "Wenn ich aufwache, schaue ich raus auf die See, die Straße von Gibraltar. Das gibt mir Kraft, Energie, Leben."

INFO: Tanger eignet sich als Ziel für jede Jahreszeit. Im Sommer ist es nicht erdrückend heiß, im Winter mild. Weitere Informationen unter www.visitmorocco.com, http://visittanger.com.

In den engen Gassen von Tanger kann man sich leicht verirren
TANGER: ARCHIV - Zum Themendienst-Bericht von Andreas Drouve vom 1. September 2020: In den engen Gassen von Tanger kann man sich leicht verirren. Sie gleichen einem Labyrinth. Foto: Andreas Drouve/dpa-tmn - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++. - FOTO: APA/APA (dpa)/Andreas Drouve

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