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Sulina in Rumänien: Die vergessene Metropole im Donaudelta

Das rumänische Sulina war einst Weltstadt und wirkt heute buchstäblich wie von der Landkarte gefallen. Zwischen Donaudelta und Schwarzem Meer warten verfallene Pracht und jede Menge Geschichte.

Möwen spazieren über die breite Uferpromenade mit ihren Weiden, in deren Schatten die Hunde dösen. Auf dem Fluss schaukeln gemütlich bunte Holzboote. Mehrere alte Männer sitzen regungslos auf der Kaimauer und angeln das Abendessen.

Still ist es in Sulina, diesem kleinen rumänischen Ort mitten im Donaudelta. Nur der wuchtige Palast direkt gegenüber der Anlegestelle an der Promenade, die orthodoxe Kathedrale mit ihren Türmen und die prächtigen Villen wollen nicht so recht ins Bild passen.

Alle Besucher reisen mit dem Schiff an, weil keine einzige Straße nach Sulina führt. Sie reiben sich mitunter die Augen: Wie kommt solch eine Stadt an das gefühlte Ende Europas?

Vier Stunden sind es mit dem Boot über die Donau ab Tulcea, einen anderen Weg gibt es nicht. Für den ersten Überblick nach der Ankunft lohnt sich der Besuch des alten Leuchtturms aus dem Jahr 1869: Grüne Wildnis bis zum Horizont auf der einen Seite, auf der anderen das Schwarze Meer. Dem Betrachter zu Füßen liegen außerdem die sechs Straßen von Sulina mit ihren Querverbindungen.

Ganz im Westen, gleich hinter der Uferpromenade, ragt der Wasserturm aus der Häuserzeile. Er wurde 1889 von der niederländischen Königin gespendet und versorgt die Stadt heute mit Trinkwasser.

Dazwischen stehen immer wieder große Villen in griechischem Stil an Sandpisten, aber auch einige Plattenbauten. Nur drei der sechs Straßen sind geteert. Verständlich, weil hier sowieso kaum jemand Auto fährt. Erstaunlich ist, dass trotzdem rund 300 alte Dacias durch die Stadt kurven.

Vom Fischerdorf zur Europolis und zurück

Man ahnt es fast, die Stadt hat bessere Zeiten gesehen: Rund 100 Jahre lang war Sulina eine wahre Weltstadt. 1856 wurde das kleine Fischerdorf zum Sitz der Europäischen Donaukommission auserkoren, die die freie Schifffahrt auf Europas zweitgrößtem Fluss sicherstellen sollte. Innerhalb weniger Jahre siedelten sich hier nicht nur etliche Konsulate an, der Freihafen bekam auch regen Zulauf aus aller Welt.

Mehrere Tausend Griechen, Rumänen, Russen, Armenier und Türken, aber auch Österreicher, Ungarn, Albaner, Deutsche, Italiener, Bulgaren und Menschen vieler anderer Nationalitäten lebten in Sulina. Im Zensus am Ende des 19. Jahrhunderts wurden auch drei Inder und zwei Ägypter vermerkt. Als Umgangssprache diente vor allem Griechisch, offizielle Dokumente wurden in Englisch und Französisch abgefasst.

In Spitzenzeiten lebten bis zu 15.000 Menschen in Sulina. Man zählte 150 Geschäfte und 70 Unternehmen. Sogar der rumänische König Carol I. kam 1894 zu Besuch. Ein "Europa in Miniatur" nannte der Hafenkommandant Eugeniu Botez den Ort in seinem Roman "Europolis", den er 1933 unter dem Pseudonym Jean Bart veröffentlichte.

Kein Stress abseits des Weltentrubels

Heute harren in Sulina offiziell noch rund 3.000 Menschen aus - und jedes Jahr werden es ein paar weniger. Aber es gibt auch Menschen, die es hierher zieht. Valentin Lavric ist so einer.

Der 53-Jährige stammt ursprünglich aus einem transsilvanischen Bergdorf und entschied sich vor rund 20 Jahren, nach Sulina zu gehen. "Ich kannte das Donaudelta noch aus meiner Jugend, von einem Besuch mit den kommunistischen Pionieren. Und das Leben ist hier weniger stressig, weniger hektisch, die Zeit scheint in Sulina langsamer zu vergehen", sagt er. Bereut hat er den Ortswechsel nie.

Seither unterrichtet Lavric nicht nur rumänische Literatur am örtlichen Gymnasium, sondern streift auch regelmäßig durch die Natur und widmet sich der nahezu vergessenen Stadtgeschichte. "Für die Deutschen beginnt die Donau in Deutschland und fließt ins Schwarze Meer, aber der 'Kilometer null' liegt hier", betont Lavric. "Nicht in Wien oder sonst wo im Westen, sondern bei uns."

Der Friedhof erzählt Geschichten

Einen Tipp hat Lavric auch noch: "Das multikulturelle Sulina sieht man am besten auf dem Friedhof." Der Weg dorthin führt über Sandpisten, vorbei an einem kleinen Hafen mit Fischerbooten.

Auf einem Stein heißt es: "In Gedenken an Kapitän David Beard, ertrunken in Sulina am 24. April 1876." Wenig weiter ruhen Italiener, Deutsche und französische Seeleute. Der türkische Friedhof ist daran zu erkennen, dass alle Grabsteine einen Fes tragen. An der kleinen Leichenhalle steht eine schwarze Leichenwagen-Kutsche aus Holz, irgendwann abgespannt und vergessen, wie ein Relikt aus einem Dracula-Film und geradezu typisch für das Schicksal Sulinas.

Mit dem Zweiten Weltkrieg begann der Abstieg. Die Europäische Donaukommission wurde aufgelöst. Und Sulina vergessen.

Nur die Hoffnung nicht verlieren

Unter dem kommunistischen Diktator Nicolae Ceausescu tauchte Sulina noch einmal kurz aus der Versenkung auf. Die Stadt sollte zu einem Industriehafen ausgebaut werden. So entstanden Schiffswerft und Fischkonservenfabrik. Eine Fischerei-Kooperative wurde gegründet, aber nach der Revolution von 1989 wieder geschlossen und aufgelöst. Für die Natur ein Glücksfall, für die Menschen eine Katastrophe. Hunderte Familien verloren damit ihre Existenzgrundlage.

Und wie steht es heute um Sulina? "Jedes Jahr gibt es um die 10 bis 15 Geburten, aber rund 70 bis 90 Sterbefälle in der Stadt", erzählt Lavric. Die offiziellen Einwohnerzahlen stimmen wohl nicht mehr. "Ich würde sagen, es sind heute noch 2.500 permanente Bewohner." Mehr werden es wohl nicht. "In Sulina gibt es kaum Arbeit."

Hoffnungsträger ist der Tourismus, der in den drei Sommermonaten ein wenig Geld in die Stadt spült. Immerhin lässt sich von Sulina aus das Donaudelta mit seiner einmaligen Flora und Fauna entdecken.

Valentin Lavric glaubt, dass Sulina eine Zukunft hat. Schließlich verwandelte die Donaukommission das einstige Fischer- und Piratendorf damals quasi über Nacht in eine Weltstadt.

Wer sagt, dass das nicht noch einmal passieren könnte?

Anreise: Von Bukarest aus in sechs bis sieben Stunden nach Tulcea, zum Beispiel per Mietwagen oder Auto-Transfer etwa mit Kirvad Tour. Von dort weiter mit dem Boot der staatlichen Navrom. Preise und Abfahrtszeiten online unter www.navromdelta.ro/en/home/.

Ausflüge: An der Uferpromenade warten im Sommer viele Tourenanbieter, die individuelle Tagesausflüge ins Delta organisieren.

Leuchtturm der Donaukommission ist eines der markanten Gebäude Sulinas
SULINA - RUMÄNIEN: ARCHIV - Zum Themendienst-Bericht von Francoise Hauser vom 14. Juli 2021: Der Leuchtturm der Donaukommission ist eines der markanten Gebäude Sulinas. Foto: Francoise Hauser/dpa-tmn - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++. - FOTO: APA/APA/dpa/Francoise Hauser

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Hier endet gefühlt Europa: Sonnenuntergang am Donaudelta
--- - RUMÄNIEN: ARCHIV - Zum Themendienst-Bericht von Francoise Hauser vom 14. Juli 2021: Hier endet gefühlt Europa: Sonnenuntergang am Donaudelta. Foto: Francoise Hauser/dpa-tmn - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++. - FOTO: APA/APA/dpa/Francoise Hauser

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Der Friedhof führt die kosmopolitische Geschichte des Ortes vor Augen
SULINA - RUMÄNIEN: ARCHIV - Zum Themendienst-Bericht von Francoise Hauser vom 14. Juli 2021: Die Toten kamen aus verschiedensten Ländern Europas: Der Friedhof von Sulina führt Besuchern die kosmopolitische Geschichte des Ortes vor Augen. Foto: Francoise Hauser/dpa-tmn - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++. - FOTO: APA/APA/dpa/Francoise Hauser

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