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Treppe ins Nichts: Traum-Reise ins surrealistische Lüttich

Die Croissants sind wirklich unfassbar gut. So wie alles andere aus der Boulangerie. Die Erklärung kann nur sein, dass Lüttich eben die nördlichste Stadt der französischen Welt ist. Die belgische Stadt liegt direkt hinter der deutschen Grenze - und doch taucht der Besucher in eine andere Welt ein. Deutsch spricht hier niemand mehr. Die Häuser sehen eher aus wie in Frankreich. Die schönsten sind Zeugnisse der belgischen Art nouveau, gehüllt in verschlungene Jugendstilranken.

Mitten im Zentrum spielen mehrere Männer im Spätnachmittagslicht auf einem Boule-Platz. Das Klacken der silbernen Kugeln und die gedämpften Stimmen der Spieler haben etwas ungemein Beruhigendes. Es gibt wohl keinen anderen Sport, der mit solcher Gelassenheit betrieben wird. Bauchansatz ist kein Hinderungsgrund.

Bei aller Lässigkeit sind hier allerdings schon Cracks am Werk. Zunächst loten sie die Abstände aus, fixieren das Ziel, lesen den Boden. Denn wenn die Kugel an einer ungeeigneten Stelle aufkommt, springt sie weg.

Darum bereitet sich der Spieler vor. Um dann, im Moment höchster Konzentration, den rechten Arm nach hinten zu schwingen, den ganzen Körper zu verdrehen, den Arm nach vorne zu reißen und die Kugel aus dem Handgelenk heraus durch die Luft zu schleudern. Voilà. Entscheidend ist, dass der Wurf locker aus dem Handgelenk kommt.

Die verschwundene Kirche

Etwas faszinierend Fremdartiges geht von dieser Stadt aus. Wie aus einer fernen Erinnerung wirken die eigenartigen Appartement-Hochhäuser, die sich entlang der Maas und am Quai Orban am Kanal Dérivation erheben. Ihre monochromen Fassaden kontrastieren mit den Giebeln und Erkern des verkeilten Gassenlabyrinths der Altstadt.

Der surreale Charakter der Stadt setzt sich in ihren Attraktionen fort. Das einstige Wahrzeichen von Lüttich ist nicht mehr da. Es war der gotische Dom, der sogar im Hintergrund von Jan van Eycks berühmter Rolin-Madonna im Louvre verewigt ist.

Nach der Französischen Revolution wurde jedoch insbesondere der französischsprachige Teil Belgiens zu einer Hochburg des Liberalismus, und in dieser Phase des Umbruchs empfanden Lütticher Bürger die Kathedrale als Zwingburg des Glaubens und rissen sie ab. An ihrer Stelle klafft nun mitten im Zentrum eine riesige Lücke. Eiserne Säulen markieren den früheren Standort des Doms.

Eine Seite der überdimensionierten Freifläche wird vollständig von der Vorderfront eines Palastes in Anspruch genommen. Dieser hat eher die Ausmaße des Buckingham Palace als von Schloss Bellevue. Es ist die einstige Residenz der Lütticher Fürstbischöfe. Diese herrschten mehr als 1.000 Jahre über die Stadt und ihr Umland.

Während mächtigere Gebiete wie Flandern und Brabant unter die Knute ausländischer Fürsten gerieten, behauptete das Fürstbistum Lüttich bis zur Französischen Revolution seine Unabhängigkeit.

Eine weitere Lütticher Merkwürdigkeit besteht darin, dass dieses erstklassige Baudenkmal heute vollständig als Gerichtsgebäude genutzt wird und nur mit einer Führung zugänglich ist.

Stufen in den Himmel

Die wichtigste Attraktion für Touristen ist eine Treppe: die Montagne de Bueren, "eine der außergewöhnlichsten Treppen der Welt", wie es in der Lütticher Eigenwerbung heißt. Kein schöner geschwungener Aufgang wie die Spanische Treppe in Rom, keine Himmelsleiter. Nein, es sind schwarze, schmucklose Stufen, die so weit und steil nach oben führen, dass man das Ende nicht sehen kann. Eine Treppe ins Nichts?

Die Montagne de Bueren hat irgendwann ein Ende, das sei jedem versichert, der versucht ist, auf halber Strecke aufzugeben. Aber zu einer schönen Kirche oder zu einem Schloss führt sie nicht. Was den Besucher oben erwartet, ist ein grandioser Blick ins Maastal.

Vor 50, 60 Jahren sah man von diesem Standort aus noch etwas ganz anderes. Der britische Schriftsteller Graham Greene (1904-1991) dachte an "alte Burgen, die bei einem Grenzüberfall in Brand gesetzt wurden". Was er meinte, waren rot flackernde Hochöfen. Das Lütticher Becken war die erste industrialisierte Region auf dem europäischen Kontinent.

Im Lütticher Vorort Seraing errichtete der gebürtige Engländer John Cockerill (1790-1840) noch zu Lebzeiten Goethes die erste integrierte Fabrik mit Hochöfen, Eisenhütten und Walzwerken. Im Mittelpunkt des Firmenimperiums lag der 1.000 Jahre alte Sommersitz der Lütticher Fürstbischöfe, der nun von dem Industriemagnaten bewohnt wurde und deshalb heute Schloss Cockerill heißt.

Der "Dampfzauberer" selbst hat sein Denkmal vor dem Rathaus von Seraing bekommen - lange nach seinem Tod. Nachdem er sich 1838 verspekuliert hatte, ging er bankrott und musste den Zaren in St. Petersburg um Kredite anpumpen. Auf der Rückreise starb er mit 50 Jahren an Typhus.

Mehr als 100 Jahre blieb Lüttich danach noch eine der wichtigsten Kohle- und Stahlregionen. Heute stehen die erloschenen Hochöfen des einstigen Stahlkonzerns Cockerill-Sambre wie ausgebrannte Kathedralen am Ufer der Maas in Ougrée, einem Ortsteil von Seraing.

Lüttich hat sich herausgeputzt

Nach dem Niedergang von Kohle und Stahl war Lüttich Ende des vergangenen Jahrhunderts ziemlich heruntergekommen. Doch nun erlebt es schon lange wieder eine Renaissance. Die alten Brunnen im Zentrum sprudeln wieder. Das Wasser aus Löwenmäulern und Engelsmündern bietet im Sommer wunderbare Erfrischung. Viele historische Gebäude sind restauriert. Dazu kommen spektakuläre Neubauten wie der ICE-Bahnhof Liège-Guillemins, eine einzige raumgreifende Konstruktion des Architekten Santiago Calatrava.

In der Rue Léopold 26 steht das Geburtshaus des Schriftstellers Georges Simenon (1903-1989). Der Erfinder von Kommissar Maigret erreichte nach einer Verlagsschätzung von 2003 weltweit eine kaum vorstellbare Gesamtauflage von 1,4 Milliarden. Er wuchs in dem Viertel Outremeuse auf, das zwischen der Maas und dem Kanal Dérivation liegt. Es ist traditionell das Viertel der kleinen Leute.

Der Klang des Lütticher Dialekts in den Rufen der Straßenhändler, die Muscheln, Garnelen, Kirschen und Nüsse anpriesen, war eine von Simenons ersten Erinnerungen. Noch als alter Mann, der in der Schweiz ein ganzes Schloss bewohnte, erinnerte er sich an den Klang der kleinen Trompete, die der Gemüsehändler blies.

Der Trinker und das Holzbein

Outremeuse feiert jedes Jahr im August mit einer Art anarchischem Sommerkarneval die Ausrufung der "Freien Republik Outremeuse" im Jahr 1927. Im Mittelpunkt des Treibens steht eine Figur, der man in der ganzen Stadt auf Schritt und Tritt begegnet: Tchantchès, eine schnapsnasige Gestalt, die im wallonischen Dialekt ihre Kalauer reißt. Der "älteste Bürger Lüttichs" hat sogar sein eigenes Museum und seine eigene Kneipe mit dem Namen Tchantchès et Nanesse.

Ein weiteres Museum ist das des wallonischen Lebens. Es informiert vorbildlich über die Geschichte der Stadt, die sich wohl mit Recht als kulturelles Zentrum des französischsprachigen Teil Belgiens betrachten kann. Auch hier gibt es wieder einige Absonderlichkeiten, so das in Ehren aufbewahrte Holzbein von Jean-Joseph Carlier.

Dieser Veteran der Napoleonischen Kriege stritt 1830 als Freiwilliger für die belgische Unabhängigkeit von den Niederlanden. Als während der Kämpfe seine Prothese zerbrach, machte er auf einem Besenstiel weiter. Bei seiner Rückkehr nach Lüttich versprach ihm die Stadt ein Ersatzbein aus Silber, doch daraus wurde dann doch nichts.

Ein kulinarischer Abschluss

Nach so vielen Skurrilitäten möchte man einfach nur ein wenig genießen. Dazu bieten sich zum einen der hübsche Platz vor der St.-Pauls-Kathedrale an und der Place du Marché, Lüttichs Prachtmeile voller Cafés und Restaurants unter Bäumen. Hier wird es richtig burgundisch. Sehr zu empfehlen ist das Eis von Pistache & Chocolat.

Allerdings wäre Lüttich nicht Lüttich, wenn sich nicht auch hier eine Eigentümlichkeit finden würde. Die größte Sehenswürdigkeit der Stadt ist in den Augen vieler überzeugter Wallonen eine leicht zu übersehende Säule mit einem Reichsapfel auf der Spitze. Dieses als "perron" bezeichnete Denkmal war ursprünglich ein Symbol für die Lütticher Freiheit und Unabhängigkeit. Im 20. Jahrhundert entwickelte es sich zu einem Sinnbild der wallonischen Identität im durch den Sprachenstreit zerrissenen Königreich Belgien.

Natürlich darf man die Stadt auf keinen Fall verlassen, ohne eine Tüte Pommes frites geleert zu haben. Besser als hier wird man sie kaum bekommen. Wohl jeder Belgier und jede Belgierin hat noch eine Szene aus Kindertagen im Kopf, als er oder sie an einem eiskalten Wintertag oder in einem prasselnden Regenschauer ausgehungert mit einer Tüte Pommes frites unter dem Vordach einer Frittenbude stand. Vor sich die dampfend heißen Kartoffelstäbchen, goldgelb und mit einer feinen Prise Salz bestreut. Kein späteres kulinarisches Erlebnis kann damit verglichen werden. In diesem Punkt stimmen Flamen und Wallonen völlig überein.

Doch, ja, auch diese Treppe hat irgendwann einmal ein Ende
LÜTTICH - BELGIEN: ARCHIV - Zum Themendienst-Bericht von Christoph Driessen vom 2. März 2021: Die Treppe ins Nichts: Hauptattraktion von Lüttich ist die Montagne de Bueren. Foto: Christoph Driessen/dpa-tmn - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++. - FOTO: APA/APA (dpa)/Christoph Driessen

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Eiserne Säulen markieren den früheren Standort des Doms
LÜTTICH - BELGIEN: HANDOUT - Zum Themendienst-Bericht von Christoph Driessen vom 2. März 2021: Eiserne Säulen markieren den früheren Standort des Doms - dahinter der Fürstbischöfliche Palast. Foto: Jean-Paul Remy/WBT/dpa-tmn - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit dem genannten Text und nur bei vollständiger Nennung des vorstehenden Credits - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++. - FOTO: APA/APA (dpa/WBT)/Jean-Paul Remy - Foto: Jean-Paul Remy/WBT/dpa-tmn....ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit dem genannten Text und nur bei vollständiger Nennung des vorstehenden Credits

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Bahnhof Liège-Guillemins wurde von Santiago Calatrava entworfen
LÜTTICH - BELGIEN: HANDOUT - Zum Themendienst-Bericht von Christoph Driessen vom 2. März 2021: Der Bahnhof Li?ge-Guillemins wurde vom spanisch-schweizerischen Stararchitekten Santiago Calatrava entworfen. Foto: Jean-Paul Remy/WBT/dpa-tmn - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit dem genannten Text und nur bei vollständiger Nennung des vorstehenden Credits - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++. - FOTO: APA/APA (dpa/WBT)/Jean-Paul Remy - Foto: Jean-Paul Remy/WBT/dpa-tmn....ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit dem genannten Text und nur bei vollständiger Nennung des vorstehenden Credits

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