APA - Austria Presse Agentur

"Antigone im Amazonas": Nach Premiere in Gent bald in Wien

Es ist eine erschreckende und brutale Szene, die bei "Antigone im Amazonas" im Mittelpunkt steht, und auch wenn sie ohne Theaterblut auskommt, geht sie an die Nieren. Denn das 1996 von der brasilianischen Militärpolizei an Protestierenden im Amazonas verübte Massaker, das nun nachgestellt wurde, hat wirklich stattgefunden. Überlebende von damals spielen mit. Auf Video. Sie sind in Brasilien geblieben. Nach Wien kommt dagegen die Aufführung, die gestern in Gent Premiere hatte.

"Antigone im Amazonas" ist ein perfektes Bindeglied zwischen den jetzigen und den künftigen Wiener Festwochen. Der belgische Intendant Christophe Slagmuylder hatte den nun als seinen Nachfolger designierten Schweizer Milo Rau eingeladen, seine Antiken-Trilogie (deren erster Teil "Orest in Mossul" 2019 bei den Festwochen gezeigt wurde) in Wien fortzusetzen. Corona stoppte die Arbeiten an der Produktion in Brasilien. Die brasilianische Schauspielerin und indigenen Aktivistin Kay Sara hielt ihre Eröffnungsrede der Wiener Festwochen 2020 online. Erst im Frühjahr 2023 wurde die Zusammenarbeit mit der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) fortgesetzt und am 17. April auf einer Straße im Bundesstaat Pará das Massaker mit 21 Toten in Form eines Reenactments nachgestellt - was in Brasilien für große Aufregung sorgte.

Kay Sara hat sich entschlossen, ihre Arbeit und ihren Kampf nur noch in ihrer Heimat weiterzuführen - weswegen sie und andere MST-Aktivistinnen und Aktivisten nicht live auf der Bühne, sondern in zahlreichen Videosequenzen zu sehen sind. Dort agieren sie an der Seite von Schauspielern und Überlebenden des damaligen Massakers, das in der Nachstellung förmlich einer Hinrichtung gleicht. Unmissverständlich wird klar, dass die knapp zweistündige Aufführung, die eine Mischung aus Dokumentartheater und Tragödien-Neuschreibung ist, nur als Teil eines großen Ganzen verstanden werden kann, in dem Kunst bzw. Theater keine unwichtige, aber nicht die einzige Rolle spielt.

Kurz vor der Premiere wurde eine "Erklärung des 13. Mai" veröffentlicht, die den Palmöl-Hersteller Agropalma, mit ihnen zusammenarbeitende Firmen wie Ferrero und das Greenwashing von Produkten kritisiert und sich mit MST solidarisiert. "Diese Aktivist:innen kämpfen für uns alle, denn im Amazonas entscheidet sich die Zukunft unseres Planeten: Für oder gegen die endgültige Abholzung des größten Urwalds der Welt. Für oder gegen eine ökologische und menschliche Landwirtschaft. Für oder gegen die Vertreibung von Menschen für die Herstellung von Soja, Palmöl und Rindfleisch", heißt es. Zu den 50 prominenten Erstunterzeichnern zählen Giorgio Agamben, Noam Chomsky, Slavoj Zizek, Carola Rackete, Yanis Varoufakis, Annie Ernaux, Angela Davis und aus Österreich etwa Elfriede Jelinek, Olga Neuwirth und Robert Menasse. In Wien werde man vor der Aufführungsserie gesondert auf diese Dimension und die Aktivitäten von MST hinweisen, betonte Milo Rau im APA-Interview.

Auf der mit Erde bedeckten Bühne sind diese Hintergründe kaum präsent. Dort erzählen die Schauspieler Frederico Araujo, Sara De Bosschere und Arne De Tremerie sowie der Musiker Pablo Casella, immer wieder von weißen Campingsesseln aufstehend, in Szenen springend und mit den Videoaufnahmen interagierend, von der Arbeit in Brasilien und ihrer Begegnung mit den kämpferischen und eindrucksvollen Menschen dort. Und sie versuchen mit einem Roten Faden die Sophokles-Tragödie mit den dortigen Geschehnissen von heute zu verweben und neu zu interpretieren.

"Ungeheuer ist viel, doch nichts / Ungeheurer als der Mensch", heißt es in "Antigone". Der Kampf gegen himmelschreiende Ungerechtigkeit eint Antigones Aufbegehren gegen Kreons Tyrannis und die Aktivistinnen und Aktivisten im Amazonas - ob der doppelte Kulturtransfer dabei immer funktioniert ist fraglich, aber auch nicht spielentscheidend. Im Bewusstsein dessen hat Rau einige wohltuende selbstironische Momente eingebaut, in der ein kleiner Clash of Cultures aufblitzt. Und das ist gut so. Denn dass mit verschiedenen Mitteln für gemeinsame Ziele gekämpft wird, daran lässt der Abend nie einen Zweifel. Standing Ovations bei der Weltpremiere - und diesmal stimmt der Begriff wirklich. Denn nach Gent, Amsterdam und Wien wird die Produktion u.a. in Frankfurt, Avignon, Rom, Paris, Madrid, Porto und Lissabon gezeigt.

(S E R V I C E - "Antigone im Amazonas", Konzept und Regie: Milo Rau, Milo Rau & Ensemble. Mit Frederico Araujo, Sara De Bosschere, Pablo Casella und Arne De Tremerie. Auf Video: Kay Sara, Gracinha Donato, Célia Maracajà, Martinez Corrêa, Ailton Krenak und der Chor des Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra (MST), Im NTGent noch am 16./17.5. und 9./10.6.; bei den Wiener Festwochen von 25. bis 27.5., 20 Uhr, im Burgtheater, Publikumsgespräch am 26. im Anschluss an die Vorstellung. www.festwochen.at: "Erklärung des 13. Mai": http://www.declaration13may.com/ )