Augenzeugenberichte: Ukraine-Lesung im Landestheater NÖ

"I want to go home": Tobias Artner, Caroline Baas, Bettina Kerl, Michael Scherff
"Was wir Dramatiker während des Krieges, vor allem in den ersten Monaten, erlebt haben, reicht aus, um ein Leben lang Stücke zu schreiben." Die ukrainische Autorin Lyudmila Tymoshenko hat ihren bitteren Humor nicht verloren. In der Theaterwerkstatt des Landestheater Niederösterreich gibt sie am Freitag mit Kolleginnen und Kollegen unter dem Titel "I want to go home - Was geschah am 24. Februar 2022?" in Form einer szenischen Lesung Einblicke in ihre Erlebnisse.

"Kurz vor Ausbruch des Krieges fand sich eine Gruppe von ukrainischen Dramatikerinnen und Dramatikern zusammen, die in Kiew ein 'Theater der Dramatiker*innen' eröffnen sollten. Dazu kam es nicht, da am 24. Februar 2022 die russische Invasion in der Ukraine begann und Kiew bombardiert wurde", erzählt Landestheater-Chefin Marie Rötzer der APA. Ziel der Autoren sei es gewesen, "ihre Rechte und ihre Texte zu schützen", sagt Tymoshenko. Plötzlich ging es um den Schutz des eigenen Lebens. "In den ersten Kriegstagen saßen alle verängstigt und schockiert in den Luftschutzkellern und zählten die Stunden bis zum Ende des Luftalarms. Als klar wurde, dass es sehr gefährlich werden würde, begannen die Frauen, einen sicheren Ort für ihre Kinder und Eltern zu suchen. Einige gingen ins Ausland - nach Deutschland, Polen, in die Schweiz und nach Irland. Ein Teil zog in die Regionen Czernowitz und Zakarpattia - die friedlichsten Regionen der Ukraine. Aber nicht alle hatten Erfolg - insbesondere unsere Kollegin Olena Astrasyeva und ihre Kinder gerieten in Cherson unter die Besatzung und konnten erst zwei Monate später evakuiert werden", berichtet die Autorin.

"Zwei unserer Kolleginnen - Katja Penkowa und Lena Ljaguschonkowa - erleben diesen Horror zum zweiten Mal. Vor acht Jahren flohen sie aus den Regionen Donezk und Luhansk. Aus ihrer Feder sind bereits mehrere talentierte Texte über den Krieg im Donbas erschienen." Ihre männlichen Kollegen blieben alle in der Ukraine. "Einige machten Freiwilligenarbeit, andere zogen in den Krieg. Unser künstlerischer Leiter Maksym Kurochkin war an der Front und wurde verwundet. Und der Dramatiker Yevhen Markovsky ist immer noch im besetzten Cherson und kümmert sich um seine bettlägerige Mutter. Heute sind einige der Dramatikerinnen in die Ukraine zurückgekehrt. Nur diejenigen, die nirgendwohin zurückkehren können, und diejenigen, deren Kinder bereits zur Schule gehen, sind im Ausland geblieben. In der Ukraine haben nämlich nur die Schulen mit Bunkeranlagen geöffnet", so Tymoshenko zur APA.

"Nun haben alle Dramatiker das Recht, über den Krieg zu schreiben, weil sie Erfahrung haben. Aber niemand hat um diese Erfahrung gebeten und niemand hat sie gewollt - sie ist einfach passiert und man muss etwas dagegen tun", meint die Autorin. "Die Aufgabe eines Dramatikers ist es, zu schreiben. Heute schreiben wir, damit die Welt die Wahrheit von einem Augenzeugen der schrecklichen Ereignisse erfährt und damit diese Wahrheit niemandem fremd bleibt." Deshalb gehe es darum, Texten wie dem Monolog "Durch die Haut" von Natalia Blok, dem "Wörterbuch der Gefühle" von Elena Astaseva oder dem Tagebuch von Pavlo Arie Gehör und Öffentlichkeit zu verschaffen. Die Texte wurden bereits an einigen Theatern gelesen. In St. Pölten richtet Regisseur Sebastian Schimböck nach einer Idee der Autorin Natalia Woroschbyt eine szenische Lesung ein und umrahmt die Text-Collage mit Videoeinblendungen und ukrainischer Musik.

"Die Texte erzählen vom Schock über den Ausbruch des Krieges, die Angst um Familie und Freunde, die Flucht in den Keller oder in die U-Bahn oder schlimmstenfalls sogar ins Ausland. Sie beschreiben absurde Situationen, wie man sich z. B. am besten in Sicherheit bringt oder wo man noch Lebensmittel oder Medikamente bekommt", fasst Marie Rötzer zusammen. "Die Texte vermitteln aber auch Lebensfreude, Humor auch in finsteren Zeiten und Selbstironie." Im Versuch, "dem Lebensgefühl der Menschen in der Ukraine nahe zu kommen", gibt es nach den Vorstellungen auch Publikumsgespräche, zu denen die Autoren zugeschaltet werden. "Mit jedem Abend, jedem Monolog, jedem Text werden die persönlichen Tragödien und Erfahrungen den Zuschauern offenbart, die die Situation in der Ukraine nur aus den Nachrichten kennen", resümiert Tymoshenko. "Wenn es dann an der Zeit ist, eine Entscheidung zu treffen, werden sie sie vielleicht nicht zugunsten von russischem Öl oder Gas treffen."

(S E R V I C E - "I want to go home - Was geschah am 24. Februar 2022?", Landestheater Niederösterreich - Theaterwerkstatt, St. Pölten, Roßmarkt, Premiere: Freitag, 30.9., 19.30 Uhr, Weitere Vorstellungen: 26.11., 20.12., 17.2., Karten: 02742 / 90 80 80 600, www.landestheater.net)

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