APA - Austria Presse Agentur

Auschwitz-Überlebender: "Eine Pflicht den Toten gegenüber"

Eine kalte Wintersonne scheint durch die Fenster in die elegante Wohnung in Berlin-Grunewald. Leon Schwarzbaum legt seine Hand über die Augen und berichtet von Auschwitz. "Ich habe Glück gehabt zu überleben. Meine Freunde, meine Verwandten haben nicht das Glück gehabt", sagt der 98-jährige deutsche Jude, der als junger Mann in das größte NS-Vernichtungslager deportiert wurde.

Schwarzbaum ist einer der letzten Überlebenden von Auschwitz, das die deutsche Kanzlerin Angela Merkel am morgigen Freitag erstmals seit ihrem Amtsantritt besucht. Mit 98 Jahren legt er weiter Zeugnis ab über die Gräueltaten, die er an diesem Ort erleben und mitansehen musste. Er spricht von einer "Pflicht den Toten gegenüber".

Mit 22 Jahren wurde Schwarzbaum nach Auschwitz deportiert. Seine Eltern wurden noch am Ankunftstag im Juli 1943 dort vergast. Insgesamt wurden 35 Mitglieder von Schwarzbaums Familie ermordet.

Schwarzbaum selbst überlebte zwei Jahre an dem Ort, der wie kein anderer für den Rassenwahn der Nazis und den Völkermord an den Juden im Zweiten Weltkrieg steht. Er arbeitete als Zwangsarbeiter für Siemens, bevor er im Jänner 1945 von den Nazis auf einen der Todesmärsche gezwungen wurde.

Von den Gräueltaten, die er mitansehen musste, hat sich eine Szene Schwarzbaum besonders ins Gedächtnis eingebrannt - sie verfolgt ihn bis heute: nackte Menschen auf einem Lastwagen, ihre Arme betend gen Himmel gereckt, weinend.

"Die SS war eine Bande von Mördern, die nur ausgerichtet war, die Menschen zu berauben, die Menschen zu erniedrigen, den Menschen eine Nummer aufzustempeln, den Namen wegzunehmen und die Existenz eines Menschen zu untergraben", sagt Schwarzbaum.

Die Nationalsozialisten wollten Leon Schwarzbaum auf eine KZ-Häftlings-Nummer reduzieren. Er zieht den Ärmel seines Wollpullovers hoch und zeigt die von den Nazis eintätowierte Nummer: 132 - 6 - 24.

In seiner mit Antiquitäten, Gemälden und Erinnerungen an ein ganzes Leben gefüllten Berliner Wohnung erzählt Schwarzbaum, dass er in Bedzin rund 60 Kilometer von Auschwitz aufwuchs. Vor ein paar Jahren besuchte er den Ort, dorthin zurückkehren wollte er aber nie.

Trotz der schmerzhaften Erinnerungen entschied er sich nach dem Krieg für Berlin, wegen seiner Freunde, wie er sagt. "Und das waren jetzt meine Verwandten, weil ich keine Verwandten mehr hatte." Im geteilten Berlin verliebte er sich in seine spätere Frau. Mit ihr eröffnete er ein Antiquitätengeschäft gegenüber dem KaDeWe. Seine Frau starb 2012; sie lächelt ihn nun aus einem vor ihm stehenden Fotorahmen an.

Jahrzehntelang sprach Schwarzbaum nicht über seine Geschichte. "Ich wusste nicht, wem ich alle diese Ungeheuerlichkeiten erzählen soll", sagt Schwarzbaum. Niemand habe die Überlebenden hören wollen.

Der Horror kam in den 70er Jahren bei einer Hochzeit am Wannsee zurück. Wo er im Krieg gewesen sei, fragte sein Tischnachbar, der berichtete, er selbst sei bei der SS gewesen. Es war Schwarzbaums Frau, die antwortete: "Mein Mann war in Auschwitz."

"Später bin ich zu der Meinung gekommen, dass ich erzählen muss", sagt Schwarzbaum heute. Nun berichtet er als Zeitzeuge den jüngeren Generationen und tritt vor Gerichten auf.

2016 erzählte er im Prozess gegen den ehemaligen Auschwitz-Wächter Reinhold Hanning seine Geschichte. Den Prozess empfand er als zutiefst enttäuschend. Der damals 93-jährige Hanning blieb vor Gericht weitgehend stumm, lieferte ein schriftliches Geständnis ab.

Kurz vor Verkündung der fünfjährigen Haftstrafe gab Schwarzbaum ihm einen Brief, den er nun auf seinem Sofa vorliest: "Es gibt keine Vergebung. Das können nur die Toten, denen Sie als Teil der SS das Leben nahmen. So wie wir Überlebenden bis zum Tod mit den furchtbaren Erinnerungen leben müssen, werden Sie auch leben müssen bis zu Ihrem Tod mit sich allein."

Hanning antwortete nicht. Er starb 2017.