APA - Austria Presse Agentur

Bachmann-Preis: Trennung, Genozid und ein Schrank

Mit "Kenn ich nicht" startete der deutsche Autor Yannic Han Biao Federer in den zweiten Lesetag der 43. Tage der deutschsprachigen Literatur. In seinem Text, in dem immer wieder der Name eines Autors mit dem Namen Yannic Han Biao Federer auftaucht, erzählt er die Geschichte einer Trennung und eines Neuanfangs in einer neuen Wohnung.

Auch ein Schriftsteller namens Micha kommt vor, der offenbar die Geschichte des Ich-Erzählers, dessen Name Tobi ist, erzählt. "Micha schickt mir einen neuen Text, ich lese ihn auf dem Handy. Es geht um einen, der Tomi heißt und Autor werden will, er ist Halbchinese, aber die meisten sehen ihm das nicht an, und manchmal vergisst er es auch selbst", heißt es etwa an einer Stelle. Die Jury konzentrierte sich in der Diskussion zunächst auf das Aufspüren der zahlreichen Ebenen des Textes, für Jury-Vorsitzenden Hubert Winkels sind es "mindestens vier, vielleicht fünf Ebenen". Er ortete ein "postmodernes Spiel mit den Erzählebenen" und lobte die "sinnliche Präsenz der Beschreibung der Orte".

Für lebendige Diskussionen sorgte auch der Schlusssatz, in dem eine Möwe dem Erzähler in die Sandale "scheißt". Stefan Gmünder fand dieses Ende "nachgerade genial" und verglich die "Erzählpartikel" mit einem sich immer wieder neu zusammen setzenden Kaleidoskop: "Diese ganzen Dinge scheinen mir auch in ihrer Zersplittertheit logisch. Der Text funktioniert von A bis Z, ohne unbedingt kunstsinnig sein zu wollen, ohne aufgesetzt zu sein." Winkels erinnerte an die Festrede von Clemens Setz: "Das hier ist scripted reality." Nora Gomringer war beim ersten Lesen "gar nicht begeistert, weil es mir zu viel war. Auch zu viel des Gleichen." Das Nachdenken über das Thema Trennung und das daraus resultierende Bedürfnis nach Trost und Zärtlichkeit habe ihr dann aber einen Zugang zum Text verschafft. Dennoch habe es sie immer wieder "rausgekegelt".

Klaus Kastberger beklagte, dass der Text Probleme habe, zu einem Ende zu finden, das er als nicht gelungene Klammer verstand. Auch das Vorkommen des realen Autorennamens empfand er als "aufgesetzt". Hildegard Keller, die den Autor eingeladen hat, zeigte sich von dem Text "ungemein eingenommen". Es sei ein Spiel mit "Alter egos auf allen Ebenen. Das ist für mich eine grandios leichtfüßige Erzählung."

"Vierundsiebzig" lautete der Titel des zweiten Beitrags des Tages: Die deutsche Autorin Ronya Othmann, Jahrgang 1993, beschreibt darin eine beklemmende Reise in den Irak, bei dem die Ich-Erzählerin, die in Deutschland lebt, ihre jesidischen Verwandten besucht und auf den Spuren der Gräueltaten des IS aus dem Jahr 2014 wandelt. Immer wieder verliert sie im Schreiben ihre Sprache: "Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist." Othmann erzählt vom Nicht-Erzählbaren und erschafft dabei Bilder, die kaum zu ertragen sind.

In der Jury führte der Text zu einer heftigen Diskussion über die Grenzen der Literaturkritik. "Es ist gar nicht so leicht, nach so einem Text über ihn zu sprechen", hielt Winkels eingangs fest. "Das Hauptthema hier ist der Unsagbarkeitstopos", so Winkels, der den Text "wirklich gelungen" fand. Hildegard Keller und Nora Gomringer enthielten sich ihrer Kritik, da die beiden den Text als Reportage verstanden wissen wollen. Anders Kastberger, der das "reale Bezugsfeld des Textes" als dessen Stärke hervorhob und an Peter Handke und seine umstrittene Reise nach Jugoslawien erinnerte. Othmann sei am Geschehen noch näher dran gewesen. "Superlative wären für den Text unangemessen", so Kastberger, der damit an die bei den bisherigen Jury-Diskussionen vergebenen Superlative erinnerte. Insa Wilke, die den Text eingeladen hat, fand es "gerade in letzter Zeit" wichtig, sich auch aus literaturkritischer Sicht mit reportagehaften Texten auseinanderzusetzen und lobte die "feinen Bewegungen" des Textes. Auch Wiederstein habe der Text "auf eigenartige Art demütig gemacht, und zwar im Hinblick auf die Sprache".

Als letzte Autorin des Vormittags las die Österreicherin Birgit Birnbacher ihren Text - im Stehen. In "Der Schrank" lässt sie ihre Ich-Erzählerin von ihrer Teilnahme an einer Langzeitstudie über "Lebensverhältnisse und Neue Arbeit" berichten. Im Zentrum steht ein plötzlich im Stiegenhaus aufgetauchter Schrank, der niemandem zu gehören scheint und allen im Weg steht, wodurch sie aufhören darüber nachzudenken, was ihnen in ihrem Leben selbst im Weg steht.

Die Jury - der aufgrund der Hitze Nora Gomringer fehlte - lobte den Text fast einhellig. Für Hildegard Keller war es ein Text, der aufgrund der Thematik "Neue Arbeitswelt" alle Leser anspreche. "Ich finde den Text wirklich ganz gelungen, in jeder Hinsicht." Uneinig waren sich die Juroren, inwiefern Birnbacher Empathie für ihre Figuren aufbringt. Während Winkels die Figuren "wie in einer Parabel von Kafka extrem reduziert" empfand, sagte Wiederstein: "Das ist der erste Text bisher, der Empathie für seine Figuren hat." Klaus Kastberger erinnerte angesichts des Endes, in dem die Erzählerin im Schrank verschwindet, an Bachmanns "Malina" und das dortige Verschwinden in der Wand und hielt fest, dass ihm bei Birnbacher ein wenig die innere Notwendigkeit zum Verschwinden fehle. Am Ende der lebhaften Diskussion rund um prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse verschwanden die Beteiligten in die Mittagspause.