Behandlungskodex für Junge mit offener Geschlechtsidentität

Vor allem die Pubertätsblockade wird kontrovers diskutiert
Experten aus 27 Fachgesellschaften und zwei Interessensverbänden aus Deutschland, der Schweiz und Österreich haben in jahrelanger Arbeit "Leitlinien für Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter" erarbeitet. Diese sind in finaler Abstimmung und sollen künftig Betroffene, Ärzte oder Therapeuten unterstützen. In einem Pressegespräch plädierten Forscherinnen und Forscher für einen möglichst offenen, umfassenden und vor allem individuellen Zugang.

An dem von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) federführend abgewickelten Prozess war u.a. auch die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ÖGKJP) mitbeteiligt. So ist darin etwa auch die rechtliche Situation in Österreich angeführt und ausgewiesen, welche fachliche Qualifikation etwa involvierte Ärzte oder Psychologen erfüllen sollten, wenn es zum Beispiel um Überlegungen zur Anwendung von geschlechtsangleichenden Hormonbehandlungen, Operationen oder der besonders stark diskutierten Pubertätsblockade geht. "Pubertätsblocker" sind Wirkstoffe, die die Bildung von Geschlechtshormonen vorübergehend stoppen.

Gerade letzterer Punkt sei auch in der Genese des Papiers höchst kontrovers diskutiert worden, hieß es bei einem vom deutschen Science Media Center (SMC) veranstalteten Pressegespräch mit Mitautoren der Leitlinie, die in wenigen Wochen in ihrer Endfassung öffentlich zugänglich gemacht wird. Das Papier soll Anhaltspunkte für einen sorgfältig gestalteten Prozess geben, um junge Menschen bei Entscheidungen in Abstimmung mit Obsorgeberechtigten zu unterstützen, erklärte Dagmar Pauli von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Vielfach betonten die Experten, dass anhand der Lebensgeschichte sehr genau die Beständigkeit der Transidentität abgeschätzt werden müsse, und vor allem auch das Umfeld der Person so gut wie möglich eingebunden wird. Letztlich können minderjährige Menschen über den Weg, den sie bestreiten wollen, auch nur in Abstimmung und mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten entscheiden. Manchmal würde dann vielleicht auch nur ein Elternteil nicht zustimmen. Hier sollte dann alles getan werden, um alle ins Boot zu holen, so Pauli.

Dass eine "Geschlechtsinkongruenz" oder "Geschlechtsdysphorie" - von "Geschlechtsidentitätsstörungen" spricht man in Fachkreisen nicht mehr - schon in sehr jungen Jahren sehr deutlich zutage tritt, sei insgesamt selten. Eine halbwegs belastbare Zahl für den deutschsprachigen Raum anzugeben, sei eigentlich nicht möglich, so Achim Wüsthof vom Endokrinologikum Hamburg. Beim Reizthema "Pubertätsblocker" gelte, dass diese nur bei frühen, konstanten und sehr starken Signalen in Richtung Geschlechtstransition beginnend bereits im Volksschulalter angedacht werden sollten. Ja, es stimme, dass auf einen solchen Schritt oft auch eine Angleichung des Geschlechts an die empfundene Identität, in Form von Hormonbehandlung oder Operation folgt, räumten die Experten ein. Trotzdem sollte der Prozess möglichst von einer "verlaufsoffenen Grundhaltung" getragen sein.

Die Angst, dass gerade mit Blockern ein Weg quasi einzementiert wird, sei nicht unbedingt berechtigt, da Entwicklungen unter Umständen auch später nachgeholt werden könnten. Wichtig sei aber, nicht auf präventive Pubertätsblockaden zu setzen, so Wüsthof. Der Körper müsse die Hormonwirkungen erst ein Stück weit spüren. Manchmal führe dann eine beginnende Verweiblichung oder Vermännlichung auch zu einer Art "Versöhnung mit dem Körper".

Ist das Hoden- oder Brustwachstum aber schon weiter fortgeschritten bzw. der Stimmbruch vollzogen, kann dies freilich kaum noch vollständig rückgängig gemacht werden: Dann steige entsprechend die Gefahr, dass vielleicht "getuschelt wird: 'Das war mal ein Mann'", sagte Wüsthof.

Trotz all der Schwierigkeit beim Treffen solcher tiefgreifender Entscheidungen, für die man in der Leitlinie bewusst keine Altersgrenzen empfiehlt, sehe man recht klar, dass so behandelte Personen davon profitieren. Auch die Pubertätsblockade sei also eine wichtige Behandlungsoption. Man dürfe nicht vergessen, dass es sich hier vielfach um Menschen in einer tiefen Krisensituation handle, denen mit einfachem Nichtstun meist nicht geholfen ist, sagte die Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin in Göttingen, Claudia Wiesemann. Man habe es oft mit einer Person zu tun, "die die Erfahrung macht, in ein völlig falsches Geschlecht hineingezwungen zu werden". Diese Menschen wiederum durch die Pubertät hindurchzuzwingen, berge die Gefahr, dass sich tiefe psychische Probleme einstellen.

Interessant sei, dass aktuell rund 70 Prozent der Personen, die im Jugendalter vorstellig werden, biologisch Mädchen sind. Der Anteil an "Transjungen" - so Wüsthof - sei zuletzt "deutlich angestiegen". Was genau dahinter steckt, könne man nicht hinreichend beantworten: "Das muss ein multifaktorielles Geschehen sein. Und dann ist halt die große Diskussion, inwieweit auch soziale Medien und die Debatte um mediale Vorbilder oder Nachahmungseffekte eine Rolle spielen können." Dieser Debatte müsse man sich "natürlich auch stellen", so der Experte.

( S E R V I C E - Informationen zur Leitlinie: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-014; ÖGKJP-Website: https://oegkjp.at/ )

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