APA - Austria Presse Agentur

Buch von Ljudmila Ulitzkaja über "Eine Seuche in der Stadt"

Moskau im Jahr 1939. An vielen Wohnungstüren läuten strenge, dunkle Gestalten und fordern die Bewohnern zum Mitkommen auf. Sie erzeugen Entsetzen und Panik. Einer erschießt sich gar vorher. Doch der NKWD, die russische Geheimpolizei, macht nicht Jagd auf vermeintliche Gegner des Sowjet-Systems, sondern exekutiert Absonderungsbescheide. Durch rasche Quarantäne soll eine Ausbreitung der Pest verhindert werden. Das ist der Plot von Ljudmila Ulitzkajas "Eine Seuche in der Stadt".

Den Ausbruch von Lungenpest durch einen Erreger, der von einem nach Moskau gereisten Mitarbeiter eines mit der Herstellung eines Pest-Impfstoffes befassten Labors verbreitet wurde, gab es wirklich, schreibt die 1943 geborene Trägerin des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur, in ihrem Nachwort. Eine Freundin, die Tochter eines damals unmittelbar beteiligten Pathologen, hatte ihr davon erzählt. Ulitzkaja nahm den Stoff 1978 als Grundlage eines Szenarios, das sie zur Bewerbung für einen Drehbuchkurs einsandte. Das Buch hatte keinerlei Chance auf Umsetzung, denn der Gedanke, dass der verhasste NKWD auch nur ein einziges Mal etwas "humanitär Nützliches" getan haben könnte, war den meisten, die mit ihm zu tun bekommen hatten, verhasst.

"Erst jetzt, als die Corona-Epidemie mich ans Haus fesselte, fiel mir der Text beim Aufräumen wieder in die Hände", kommentiert Ulitzkaja die im Vorjahr in Moskau und nun auf Deutsch erschienene Erstausgabe ihrer über vier Jahrzehnte alten Arbeit, bei der man in schnellen Schnitten und rasch wechselnden Schauplätzen vorgeführt bekommt, wie rasch sich eine Seuche ausbreiten würde, träfe man nicht schnell und energisch Gegenmaßnahmen. Damals wie heute heißt das vor allem: aufspüren und absondern. Contact-Tracing und Quarantäne. Auch in Moskau bedeutet das einen Wettlauf mit der Zeit. Es gibt heroische Ärzte, die im Kampf gegen die Seuche den Heldentod sterben, bewusst gestreute Falschinformationen, um Panik zu vermeiden, und Gerüchte, die sich so schnell ausbreiten wie der Erreger selbst.

Seinen Reiz gewinnt "Eine Seuche in der Stadt" aber aus dem Kontrast der gesundheitshygienischen Präventionsmaßnahmen zu dem stalinistischen Terror, der sich in jener Zeit auf alle Bevölkerungsschichten erstreckte. Angst und Denunziation sind an der Tagesordnung. Als einer der in Quarantäne genommenen Ärzte wieder zu seiner Frau zurückkehrt, die damit gar nicht mehr gerechnet hat, ist sie erleichtert, als sie den Grund seines Wegbleibens erfährt: "Nur die Pest?"

"Als ehemalige Biologin kann ich vermuten, dass die heutige Covid-19-Pandemie besiegt werden wird", schreibt Ulitzkaja. Noch nie sei eine Infektion "auf eine so starke und so schnell reagierende Wissenschaft getroffen". Sie hoffe, "dass diese neue Prüfung, vor der die Menschheit steht, uns nicht noch weiter voneinander trennt, uns nicht noch egoistischer macht, sondern im Gegenteil zu der Einsicht führt, dass es in der globalisierten Welt zu viel Hass und Brutalität gibt und zu wenig Solidarität und Mitgefühl. Das aber hängt von uns ab."

(S E R V I C E - Ljudmila Ulitzkaja: "Eine Seuche in der Stadt", aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Hanser Verlag, 112 Seiten, 16,50 Euro)