CERN für Teilchenphysiker nach 70 Jahren mehr denn je Magnet

Experte blickt auf "Erfolgsgeschichte" zurück
"Was die Teilchenphysik angeht, ist Europa 'the place to be'." Für Physiker Jochen Schieck ist das Europäische Labor für Teilchenphysik CERN bei Genf, das vor 70 Jahren gegründet wurde, eine Erfolgsgeschichte. Diese beleuchtet die Akademie der Wissenschaften (ÖAW) nun bei einer Science Week und einem Festvortrag in Wien. Doch auch wenn die bereits entworfenen Pläne für die nächsten Dekaden noch Imposanteres versprechen, stellt sich mehr denn je die Ressourcenfrage.

Ein Ziel der Gründung des CERN im Jahr 1954 war es, nicht nur europäischen Forscher zu ermöglichen, Teilchenphysik zu betreiben, sondern auch den "Brain Drain", also die Abwanderung von Wissenschaftern in Richtung USA, einzudämmen, wie Schieck, Direktor des Instituts für Hochenergiephysik (HEPHY) der ÖAW, gegenüber der APA sagte. Ein zentrales Merkmal der "Erfolgsgeschichte des CERN" sei es, "dass wir heute einen umgekehrten Brain Drain haben, mit dem CERN als Magnet für Forscher aus anderen Regionen der Welt", meinte der Vorsitzende des "CERN Audit Komitee" und ehemalige Vize-Präsident des CERN-Rates.

Mit der Inbetriebnahme des Large Hadron Collider (LHC), der seit dem Jahr 2009 - in verschiedenen Betriebsphasen - läuft, habe sich auch die Zahl der Nutzer des CERN auf über 10.000 im Vergleich zu früheren Experimenten "mindestens verdoppelt". Der bisher unangefochten größte Teilchenbeschleuniger der Welt bietet die Chance, den großen offenen Fragen der Physik, etwa der Suche nach der Dunklen Materie, nachzugehen.

Anfang 2026 wird der LHC für drei Jahre abgeschaltet. Ab 2029 soll der nächste markante Meilenstein folgen: der Betrieb des "High-Luminosity Large Hadron Collider" (HL-LHC). "Man spricht oft von einem Upgrade, aber das ist eher untertrieben: Mit dem HL-LHC pushen wir die Luminosität (Anzahl der Teilchenbegegnungen pro Fläche und Zeit, Anm.) nochmals kräftig in die Höhe", so Schieck. Bis 2041 sollen 3.000 Femtobarn, als Maßzahl für die Anzahl der möglichen Teilchenkollisionen, erreicht werden, "zum Vergleich: Bis Ende nächsten Jahres werden wir etwa 300 bis 400 Femtobarn gesammelt haben", so Schieck: "Mit dem HL-LHC soll der Datensatz nochmals verzehnfacht werden."

Die zentrale Herausforderung in der Teilchenphysik ist unverändert, nämlich die sprichwörtliche Suche der Nadel im Heuhaufen: In etwa nur eine von 100.000 Kollisionen lässt die Physiker etwas beobachten, was auch eine genauere Analyse rechtfertigt. "Alle 25 Nanosekunden werden Protonen kollidiert, d.h. 40 Millionen Mal pro Sekunde. Bei jeder Kollision passieren mehrere Ereignisse. Nur ein Bruchteil dieser Ereignisse bringt interessante Dinge", sagte Schieck. Der Großteil bringe nur Abläufe zum Vorschein, "die wir im Rahmen der Standardphysik schon relativ gut verstehen". Zugleich gebe es auch ein klares Limit bei der Datenspeicherung, wobei der Physiker zugleich auch auf die österreichischen Elektronik-Beiträge verweist, die die Detektion überhaupt sichtbar machen: "Jedes Higgs, das entdeckt wurde, musste unsere Elektronik passieren, damit es aufgezeichnet wurde."

Der Nachweis des Higgs-Bosons im Jahr 2012 - ihm folgte im Jahr darauf der Physiknobelpreis für Peter Higgs und François Englert, die das Teilchen bereits in den 1960er Jahren vorhergesagt hatten - war das letzte große Highlight in der 70-jährigen CERN-Geschichte, so Schieck. "Wir suchen weiterhin kräftig. So ist die Natur. Man muss aber die Experimente machen, um die noch offenen Fragen beantworten zu können."

Dabei soll künftig eine noch größere Infrastruktur unterstützen: Der HL-LHC wird bis 2041 betrieben, dann soll der "Future Circular Collider" (FCC) folgen, so die Idee. Das soll auch helfen, mehr über das Higgs-Boson zu lernen: "Das Elektromagnetische Feld hat immer eine Richtung. Das Higgs-Boson und das dazugehörige Higgs-Feld sind das einzige skalare, also 'richtungslose' Feld, das wir kennen. Der FCC wäre quasi eine Higgs-Factory, um viele der Higgs-Bosonen zu produzieren - und das auch in einer extrem reinen Umgebung." Immerhin könnte das Higgs-Teilchen, so Schieck, "der Schlüssel zu einer neuen Physik" sein.

Der LHC ist ein Proton-Proton-Beschleuniger. In der ersten Runde des FCC sind Elektron-Positron-Kollisionen geplant, mit denen man das Higgs-Teilchen besser auf den Prüfstand stellen könnte. Nach dem sogenannten "FCC-ee" als erste Umsetzungsstufe könnte ab den 2070ern der "FCC-hh" mit Protonen-Kollisionen folgen. Die FCC-Machbarkeitsstudie, die von dem österreichischen Physiker Michael Benedikt geleitet wird, untersucht die Umsetzung des geplanten, etwa 90 Kilometer ringförmigen Tunnels und die Kosten - im Raum stehen laut Schieck zunächst einmal circa 15 Milliarden Schweizer Franken (15,53 Mrd. Euro). Sie soll im Jahr 2025 präsentiert werden. "Man muss sich vermutlich auch Alternativen ansehen", zeigte sich Schieck vorsichtig optimistisch: "Es hat sich geopolitisch einiges geändert. Das Geld wird eher weniger als mehr." Es sei letztlich auch eine politische Entscheidung.

Der FCC wird nicht unkritisch gesehen, die hohen Investitionen (im Vergleich zur wissenschaftlichen Ausbeute), aber auch konkretere gesellschaftliche Herausforderungen wie der Klimawandel sind häufige Gegenargumente. "Es ist schwierig", so Schieck, der Verständnis für Zweifel zeigt: "Wir Physiker müssen uns auch ständig selber hinterfragen und diese Art von Entscheidungen im gesellschaftlichen Kontext einbetten."

Natürlich könne man fragen, was das Wissen über die Existenz des Higgs-Bosons der Gesellschaft bringt. Aber die Teilchenphysik sei auch eine der wenigen wissenschaftlichen und technologischen Felder, wo Europa weltweit führend ist. Die CERN-Mitglieder - Österreich ist seit 65 Jahren Mitglied - müssten sich demnach auch fragen, was ihnen der Fortbestand dieser Rolle wert ist. Auch hätten sich gerade die Astronomie und Teilchenphysik als besonders gut erwiesen, junge Menschen für die Naturwissenschaften und Technik zu begeistern. Jedenfalls müsse man vermeiden, verschiedene Wissenschaftsrichtungen gegeneinander auszuspielen.

Ein Punkt, der in Gesprächen zur Weiterentwicklung des CERN wohl auch nicht fehlen dürfte, ist sein immenser Stromverbrauch: "Das CERN verbraucht so viel Strom wie eine mittlere Kleinstadt", so Schieck. Mit dem HL-LHC werden es "sicherlich nochmals 20 Prozent mehr". Es sei jedenfalls notwendig, das CERN hier künftig nachhaltig aufzustellen.

Das wäre dann wohl auch ein Thema für die neue Direktion der Großinfrastruktur: Ende dieses Jahres soll bereits die Entscheidung fallen, wer das CERN ab dem Jahr 2026 - als Nachfolger der Physikerin Fabiola Gianotti - leiten wird. Auch mit Blick auf China und den Plänen der Volksrepublik, mit "CEPC" ab 2030 einen weiteren großen Teilchenbeschleuniger zu betreiben, stellt sich eine wichtige Zukunftsfrage: "Eigentlich reicht es, einen solchen Beschleuniger in der Welt zu haben", sagte Schieck: "Aber wir kennen auch die derzeitige geopolitische Situation - wie also damit umgehen?"

(S E R V I C E - "Science Week: Meet the Universe", veranstaltet vom HEPHY gemeinsam mit dem Stefan Meyer Institut der ÖAW, 13.-19. Juni, Museumsquartier, Ovalhalle, 1070 Wien, https://www.teilchenphysik.at/science-week/ - Festvortrag an der ÖAW zu "70 Jahre CERN" am 15. Juni, 18.00 Uhr: https://www.oeaw.ac.at/detail/veranstaltung/70-jahre-cern)

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