APA - Austria Presse Agentur

Corona: Überlebenswahrscheinlichkeit bei Triage im Fokus

Angesichts der steigenden Zahl der Intensivpatienten wird immer häufiger eine Triage-Situation befürchtet.

Prinzipiell gilt hier der Grundsatz, dass Leben nicht gegeneinander abgewogen werden dürfen, sondern die Überlebenswahrscheinlichkeit im Fokus steht. Da man sich in einem rechtsfreien Raum und in einer psychischen Extremsituation befindet, wird empfohlen, dass diese Entscheidungen nicht von Einzelnen, sondern von einem Kollektiv getroffen werden.

"Wenn im Gesundheitssystem nicht mehr ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen, um alle Personen, die eine akute Behandlung benötigen, zu versorgen, dann kommt es zu dilemmatischen Entscheidungssituationen. (...) Wo eine Entschärfung nicht gelingt, dort kommt es zu Triage-Entscheidungen (...)", heißt es in einem Positionspapier der Bioethikkommission aus dem März 2020. Im JKU-Corona-Update ging der Rektor der Linzer Johannes Kepler Universität, Meinhard Lukas, gemeinsam mit Intensivmedizinern der Frage nach, wie Triage genau aussieht und welche Richtschnur hier einzuhalten ist.

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"Absoluter Ausnahmezustand" in Intensivmedizin

Wie sehr die Intensivmedizin derzeit bereits gefordert ist, zeigten die Schilderungen einer Assistenzärztin am Linzer Kepler Uniklinikum (KUK): Aktuell herrsche "sicherlich ein absoluter Ausnahmezustand", sagte Regina Giera, "mit einer normalen saisonalen Grippewelle ist das absolut nicht zu vergleichen", räumte sie mit einem gängigen Mythos auf. Bei einer Grippewelle würden "zwischen drei und zehn Patienten" auf das ganze Jahr verteilt intensivpflichtig werden. Nun würden allein auf ihrer Station aktuell fünf Covid-Patienten behandelt, zudem seien drei weitere Intensivstationen mit Corona-Patienten belegt.

Die Belastung für das Personal sei hoch: Wenn man in eine Koje hineingehe, müsse man FFP2- oder FFP3-Maske, Visier, Haube, einen Einwegmantel, einen weiteren Plastikmantel und zwei Paar Handschuhe anlegen. Für sterile Tätigkeiten kommen noch einmal ein Mantel und Handschuhe dazu. "Man bekommt kaum Luft, man schwitzt" und komme völlig nass heraus. Die Arbeit sei "frustrierend" denn die Patienten würden sehr lange auf der Intensivstation liegen, bei vielen würde sich der Zustand trotz bester Therapie immer weiter verschlechtern, "es sterben jeden Tag Patienten" und es seien auch Junge betroffen.

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"Noch von echter Triage entfernt"

In Oberösterreich sei man immer stärker unter Druck, bestätigte der Vorstand der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin am KUK und Koordinator der Intensivbetten in Oberösterreich, Jens Meier. "Derzeit sind wir noch von echter Triage entfernt. Wenn sich die Richtung aber nicht umkehren lässt, laufen wir schon Gefahr in absehbarer Zeit in Triagesituationen zu kommen." Die oberösterreichischen Spitäler koordinieren ihre Intensivkapazitäten derzeit gemeinsam, das habe in vielen Fällen bei regionalen Engpässen geholfen, schilderte er. Sollte das System dennoch ausgelastet sein, gebe es eine Zusage aus Niederösterreich, auszuhelfen, und auch Kontakte nach Bayern. Aber: "Die Vorstellung, dass wir im 100er-Bereich Patienten verlegen können, ist so nicht machbar", sagte er, denn das seien alles Intensivtransporte mit hohem personellen Aufwand.

Wenn all diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dann droht die Triage: Experte für die ethischen Grundsätze in dieser Frage ist Andreas Valentin, Ärztlicher Direktor im Krankenhaus Schwarzach, Mitglied der Bioethikkommission des Bundeskanzleramts sowie Präsident des Verbands der intensivmedizinischen Gesellschaften Österreichs, der erst kürzlich ein Papier zum Thema publiziert hat. In "seinem" Spital im Bundesland Salzburg sei die Situation nur "geringgradig entspannter als in Oberösterreich", berichtet er. So habe sich die Belegung der Normalstation mit Covid-Patienten am Wochenende um 60 Prozent erhöht. Neun der zehn für Covid-Patienten vorgesehenen Intensivbetten seien belegt, eine Ausweitung auf 14 sei noch möglich.

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Zu Beginn "ganz normale medizinische Entscheidungen"

Am Beginn stehen noch "ganz normale medizinische Entscheidungen", die darauf abzielen, dass nicht Patienten, bei denen "die Balance zwischen der Belastung einer intensivmedizinischen Therapie und dem Nutzen völlig unausgewogen ist" und man vorneherein sagen müsse, dass sie nicht mehr gesund werden, in eine intensivmedizinische Behandlung kommen, erklärte er die Vorgehensweise in kritischen Situationen. Gibt es eine medizinische Begründung für die Behandlung, dann kommt der Patientenwille ins Spiel - auch wenn das in Akutphasen oft schwierig sei. Häufig sei man dann auf den "mutmaßlichen Patientenwillen", auf Patientenverfügungen oder Vertretungsvollmachten angewiesen.

Dann gehe es um eine Prognoseerstellung. Eine wichtige Frage ist, ob zwischen Patienten, die bereits ein Intensivbett haben, und solchen, die eines bräuchten, unterschieden wird: Hier gilt, dass beide gleich eingestuft werden sollen. Grundsätzlich würde ein bereits aufgenommener Intensivpatient die Behandlung verlieren, wenn ein neuer mit einer besseren Prognose aufgenommen wird. Es gehe also zunächst um die "unmittelbare Überlebenswahrscheinlichkeit", erklärte Valentin. Es sei durchaus sinnvoll, dass diese beiden Situationen gleich bewertet werden, betonte auch Meier. Sonst würde man in die Lage kommen, dass man vorbeugend mit Betten sparen müsste, um nicht einen Engpass zu riskieren. "So kann ich Bettplätze erst einmal anfüllen und dann sehen, wer die größere Überlebenswahrscheinlichkeit hat."

In zweiter Linie stelle sich die Frage, wie jemand überlebt - würde etwa eine chronisch intensivmedizinische Situation entstehen, jemand dauerhaft künstlich beatmet werden müssen etc. In der Praxis habe jemand, der bereits monatelang bettlägerig war, von vorneherein eine schlechtere Prognose, sagte Valentin. Man dürfe aber "niemals in die Situation kommen, die Wertigkeit von Leben gegeneinander abzuwägen". Für die Ärzte sei es eine große psychische Belastung, zu entscheiden, ob eine Therapie beendet oder eine andere gar nicht begonnen werde.

Prinzip Zufall schwer nachzuvollziehen

Das Argument, dass man nach dem Zufallsprinzip entscheiden solle, um Menschen mit chronischen Krankheiten oder Beeinträchtigungen nicht zu benachteiligen, ist für Valentin schwer nachzuvollziehen. Es sei Realität, dass eine Einschränkung oft mit geringeren Chancen zu überleben verbunden sei. Das Alter dürfe per se kein Ausschlusskriterium für eine Behandlung sein, aber natürlich gehe auch das oft mit Gebrechlichkeit oder anderen Problemen einher, die eine Prognose schlechter ausfallen lassen als bei Jüngeren.

Der Appell der Ärzte lautet, die Maßnahmen zu leben und nicht zu versuchen, sie zu umgehen. "Der Lockdown ist in meinen Augen ein brutaler Preis, den die Bevölkerung zahlt, um das medizinische System zu schützen", sagte Meier. Es gehe hier nicht nur um Corona-Patienten, sondern auch um alle anderen. Er hoffe, "dass wir vielleicht doch mit einem blauen Auge davonkommen werden" und die Triage doch noch abwendbar sei.