APA - Austria Presse Agentur

Experte zu Corona: Gute Chancen auf normalen Herbst und Winter

Der Innsbrucker Infektiologe und Direktor der Uni-Klinik für Innere Medizin, Günter Weiss, sieht "gute Chancen" auf einen de facto "normalen" Herbst und Winter.

Mit den Impfungen habe man den "Trumpf in der Hand, dass das mit hoher Wahrscheinlichkeit funktionieren wird", sagte Weiss im APA-Interview. Er plädierte für vorsorgliche Auffrischungsimpfungen für Ältere und chronisch Kranke ab Oktober, deren Erstimpfung sechs bis neun Monate zurückliegt.

Die Möglichkeit einer Wiederimpfung für diese Gruppe bereits im Herbst richte "keinen Schaden, aber viel Nutzen an". So seien diese Menschen dann auch in der kalten Jahreszeit vor schweren Krankheitsverläufen besser geschützt - auch wenn eine dritte Impfung womöglich erst einige Monate später nötig sein könnte. Aber: "Der Impfschutz ist umso kürzer, je älter man ist und je schlechter das Immunsystem arbeitet", so der renommierte Mediziner, der auch dem Beraterstab im Gesundheitsministerium angehört. Die Möglichkeit des niederschwelligen Zugangs über Impfstraßen würde er daher noch über den kommenden Winter beibehalten.

Alle anderen Personengruppen würden wahrscheinlich gut und geschützt über den Winter kommen. Man gehe derzeit davon aus, dass man im Falle von zwei Impfungen ein Jahr oder auch länger geschützt ist. Bei Genesenen mit einer Impfung sogar über viele Jahre.

Man müsse auch endlich einmal strikt unterscheiden lernen zwischen dem Schutz vor einer Infektion und jenem vor schweren Verläufen. Denn in erster Linie sei zweiteres essenziell, betonte Weiss: "Mit zwei Corona-Impfungen ist man zu über 90 Prozent vor schweren Krankheitsverläufen geschützt. Das ist ein Level, den man mit fast keiner anderen Impfung erreicht. Das bringt uns in Richtung Normalität". Überraschungen könnten bei einer Pandemie immer passieren, aber: Nach derzeitigem Stand sei erwiesen, dass die Impfungen auch gegen Mutationen gut wirken. Letztere wie etwa die Delta-Variante dürfe man nicht verharmlosen, aber auch nicht in eine "Panikmache" übergehen, wie dies in der Vergangenheit passiert sei. Der britische Weg mit dem Fallen aller Corona-Maßnahmen mit 19. Juli berge zwar etwa hinsichtlich voller Fußballstadien bei der heurigen Europameisterschaft ein gewisses Risiko, er sei aber von der "Grundstoßrichtung" her richtig.

Für einen Kurswechsel bzw. ein Umdenken sprach sich der Experte in Sachen Inzidenzzahl und Testungen aus. Die, derzeit sehr niedrige, Inzidenzzahl müsse - vor allem auch angesichts des Impffortschritts - "neu bewertet" werden. Sie sei "eine andere" als noch im Herbst des vergangenen Jahres. Und sie müsse auch zu anderen Schlussfolgerungen führen: "Wenn beispielsweise ein paar Prozent der Bevölkerung infiziert sind, aber nur ganz wenige im Krankenhaus behandelt werden müssen, dann muss ich nicht gleich alles dicht machen". Selbst bei den hohen Inzidenzen im Frühjahr sei beispielsweise das Gesundheitssystem in Westösterreich "stabil" geblieben.

Zudem sprach sich Weiss für ein Zurückfahren der Testungen aus - "Je mehr geimpft sind, umso weniger muss getestet werden. Macht das viele Testen wirklich einen Sinn, wenn nur einer von 10.000 Tests positiv ist?". Es gelte neben dem wichtigen Contact-Tracing eine "symptombasierte Teststrategie" aufzusetzen, so der Infektiologe, der dem massenhaften Testen auch von symptomlosen Personen stets kritisch gegenüberstand. Auch ein "punktuelles Testen" im Sinne des "Sentinel-Systems", wie es auch bei der Influenza gemacht werde, könne angewandt werden - "wenn die Saison wieder losgeht". Mit dem Fortschreiten der Impfungen würde analog zu den Tests auch die Pflicht zum Masken-Tragen schrittweise reduziert werden: "Irgendwann müssen wir der Impfung auch vertrauen. Ein gewisses Restrisiko gibt es in der Medizin immer. Aber wir können nicht wegen seltener Ausnahmefälle restriktive Regeln für alle aufstellen". Das Coronavirus werde "uns erhalten bleiben", wie auch die Influenza, aber man müsse damit zu leben lernen. "Live your life, but stay safe", müsse das Motto sein.

Kritisch sah Weiss die Rolle der Medien - auch in Kombination mit jener von Wissenschaftern und Experten. Oft sei über "ungelegte Eier" diskutiert und "Extrempositionen" vertreten worden. Bei manchen Medien sei ihm "die Recherche abgegangen" - dies betreffe nicht nur öffentliche Medien, sondern auch wissenschaftliche Fachzeitschriften: "Die Schlagzeile war oft wichtiger als deren Wahrheitsgehalt". Zudem müssten Medien viel mehr hinterfragen, ob diese oder jene Person, die sich öffentlich äußere, "einen Interessenskonflikt" habe - auch in Hinsicht auf Lobbyismus. Die Wissenschaft müsse wieder dazu übergehen, Details "im kleinen Kreis interdisziplinär zu diskutieren". Wichtig sei jetzt ganz besonders, so Weiss, die in der Pandemie gemachten Erfahrungen und die Effizienz von getroffenen Maßnahmen wissenschaftlich aufzuarbeiten und dadurch Evidenz und eine Handlungsbasis für zukünftige Entscheidungen zu schaffen.