APA - Austria Presse Agentur

Episch: Nino Haratischwilis Roman "Das mangelnde Licht"

Heute kann man die einstigen Geschehnisse in Georgien als Vorboten für den Ukrainekrieg sehen. Die Besetzung der Regionen Südossetien und Abchasien durch russische Truppen brachte Tod und Chaos in das Land, das nach der Unabhängigkeit Probleme genug hatte. Aber nicht nur deshalb ist Nino Haratischwilis Roman "Das mangelnde Licht" von bestürzender Aktualität. Es ist ein Epos um Krieg und keinen Frieden, um das Scheitern von Hoffnungen und das Taumeln am Rande des Abgrunds.

Haratischwilis Bücher sind meist breit angelegte Großerzählungen. Mit über 800 Seiten ist auch der neue Roman, der - wie schon "Das achte Leben (Für Brilka)" und "Die Katze und der General" - auch bereits auf die Bühne gebracht wurde, Respekt einflößend. Doch schon nach kurzer Lektüre macht einem die lange Lesestrecke keine Angst mehr. Haratischwili, 1983 in Tiflis (Tbilissi) geboren und heute in Berlin lebend, verfügt über die seltene Gabe, als echte Storytellerin rasch in die Handlung hineinzuziehen und Figuren den Lesern schnell vertraut werden zu lassen. Im Falle von "Das mangelnde Licht" sind das zunächst vor allem Keto, Dina, Nene und Ira - vier Mädchen, die Ende der 1980er-Jahre in Georgiens Hauptstadt zu Freundinnen werden.

Die Autorin, die sich auch als Dramatikerin einen Namen gemacht hat, wendet einen simplen, aber effektvollen erzählerischen Trick an: Eine große Fotoausstellung von Dina 2019 in Brüssel führt die Frauen das erste Mal seit langem zusammen. Rasch wird klar, dass sich im Zentrum eine schmerzhafte Leerstelle befindet. Dina hat sich umgebracht. Die Retrospektive wurde von ihrer kleinen Schwester organisiert, und die Vernissage wird nicht nur zum glanzvollen Ereignis der Kunstschickeria, sondern vor allem zur Konfrontation der übrigen Drei miteinander und mit ihrer Vergangenheit. Immer wieder stehen sie vor effektvollen, dramatischen Bildern, die bereits vielfach in Kunstzeitschriften abgebildet wurden, sehen sich dabei selbst als Jugendliche und wissen als Einzige um die wahren Umstände der Entstehung der Fotos. Für die Erzählerin sind diese Szenen wie Wurmlöcher, in denen sie mühelos zwischen den Zeitebenen wechseln kann.

"Das mangelnde Licht" ist Atmosphäre pur - was manche Kritiker auch als zu dicken Farbauftrag monieren und die Johannes Mario Simmel-Keule schwingen lässt. Die Gassen und Hinterhöfe der heruntergekommenen Innenstadt von Tbilissi stehen plastisch vor einem, wenn die vier Mädchen voller Lebenslust aufbrechen, die Welt - oder zumindest ihr Wohnviertel - zu erobern. Doch so wie sich die Hoffnungen der einstigen Sowjetrepublik auf eine geordnete, prosperierende und eigenständige Zukunft, auf Frieden, Wohlstand und Demokratie, allmählich zerschlagen, werden die eigenen Freiheitsbestrebungen der jungen Frauen gnadenlos mit einer Realität konfrontiert, in der kriminelle Familienclans den Ton angeben.

Nenes Onkel und Ziehvater ist einer der gefürchtetsten Kriminellen der Stadt, und bald sind auch jede Menge Brüder, Neffen und Nachbarn an Auseinandersetzungen beteiligt, in denen Frauen nur als Tauschobjekt und Ware gehandelt werden, deren Wille jedoch zugunsten der Familienehre zurückstehen muss. Gewalt und fragwürdige patriarchale Ehrbegriffe treten an sie Stelle von Recht und Staat. Die Ich-Erzählerin, die Restauratorin Keto, kann dem nur zeitweise entkommen. Die Verletzungen ihrer Seele gibt sie mit Rasierklingen als Selbstverletzungen an ihren Körper weiter.

Zwar droht man immer wieder in den Details der Konflikte, der erzwungenen Heiraten und der heimlichen Liebschaften ein wenig die Übersicht zu verlieren, doch zwei Dinge gelingen Haratischwili eindrucksvoll: Immer wieder werden die Leitmotive zu großartigen, archaisch anmutenden filmischen Szenen verdichtet und in Filmstills festgehalten, die von den Besuchern der Brüsseler Ausstellung besprochen werden; und immer wieder greift das deprimierende Scheitern aller Hoffnungen direkt nach dem Herz des Lesers. Reportagen führen Dina schließlich mitten in den Abchasien-Krieg. Und den Leser unweigerlich in die Gegenwart. Am 2. Mai wird Nino Haratischwili, die einst mit ihrer Mutter vor dem Krieg nach Deutschland floh, am Berliner Ensemble aus ihrem Roman lesen - als Benefizveranstaltung für die Ukraine-Hilfe.

(S E R V I C E - Nino Haratischwili: "Das mangelnde Licht", Frankfurter Verlagsanstalt, 832 Seiten, 35 Euro)