APA - Austria Presse Agentur

Türkei-Wahl: Ex-Mandatarin Ekici sieht "enorme Wählerwanderung"

Die frühere Wiener Landtagsabgeordnete Sirvan Ekici (ÖVP) sieht tektonische Verschiebungen in der türkischen Politik.

"Es gibt eine enorme Wählerwanderung", sagte die auch in der Türkei tätige Strategieberaterin im APA-Interview. "Leute, die bisher starke AKP-Anhänger waren, sagen jetzt, dass es eine Veränderung geben muss." Umgekehrt könne die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan bisherige Oppositionsanhänger ansprechen. Daher sei der Wahlausgang "schwer einzuschätzen".

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Ekici verwies darauf, dass bei der jetzigen Wahl auch der Militärputsch des Jahres 2016 und seine Folgen "aufgearbeitet" würden. In einer beispiellosen Säuberungswelle hatten damals tausende Beamte ihre Jobs verloren, weil sie der Sympathien für den Prediger Fethullah Gülen verdächtigt wurden. Das oppositionelle Sechs-Parteien-Bündnis werde wegen seiner großen ideologischen Differenzen skeptisch gesehen. "Ein Kind kann nicht sechs Väter haben", laute die Kritik. Das Rennen sei sehr knapp und bis zuletzt offen. "Eine Menge Leute werden erst im Wahllokal entscheiden", glaubt die Politikwissenschafterin.

Oppositionsbündnis

Unklar ist für die Türkei-Kennerin, wohin sich das Land unter einer neuen Regierung entwickeln wird. Das Oppositionsbündnis vereine nämlich religiöse, konservative und linke Parteien. "Wenn ich eine Partei will, kriege ich noch alle anderen dazu", sagte Ekici. Daher sei schwer zu beantworten, "wie europäisch und demokratisch" eine Regierung unter Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu sein werde und wie schnell sie das Land verändern werde. "Ich bin sehr gespannt, was da rauskommen wird."

Ekici dämpfte auch Erwartungen an einschneidende Veränderungen unter Erdogans Nachfolger. Als ehemalige Politikerin wisse sie, "dass nichts über Nacht geschieht", sagte sie. Auch betonte sie, dass man sich von EU-Seite "nicht einmischen" solle, indem man dem Oppositionslager eine bevorzugte Behandlung in Aussicht stelle. Vielmehr sei jeder Wahlausgang zu akzeptieren. "Die Türkei hat geopolitisch eine enorm wichtige Position. Wir dürfen die Türkei nicht vor den Kopf stoßen."

Wahlbetrug sei "schwierig", aber "nicht ganz auszuschließen", sagte Ekici auf eine entsprechende Frage. Vorkommen könnte dies in kleineren Orten, aber eher nicht in großen Städten wie Istanbul. Schließlich sei die Transparenz bei Wahlen in den vergangenen Jahren "sukzessive aufgebaut" worden und diesmal würden ganz besonders viele Wahlbeobachter mobilisiert. Gegen möglichen Wahlbetrug durch das Erdogan-Lager spreche auch, dass dieses den Verlust der Metropole Istanbul bei der Kommunalwahl 2019 akzeptiert habe. Istanbul sei nämlich ökonomisch äußerst wichtig für die Regierungspartei gewesen. "Da ging es um Milliarden", sagte Ekici.

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Auffallend sei, dass sich beide Lager um Deeskalation bemühen und keine Provokationen zulassen wollen. Bei ihren jüngsten Besuchen in Istanbul habe sie gemerkt, "dass die Leute auf der Straße sehr wenig über Politik reden". Auch von Wahlkampf sei kaum etwas zu bemerken. "Früher wurde man von einem Flaggenmeer empfangen, es gab Wagen mit Lautsprechern und Musik", so Ekici. Der Verzicht auf entsprechende Wahlwerbung könnte aber auch mit dem verheerenden Erdbeben vom Februar zu tun haben.

Die deutlich gestiegene Beteiligung unter den Auslandswählern in Österreich und anderen Ländern erklärte Ekici mit dem offenen Rennen. Bei früheren Wahlen wären Oppositionsanhänger daheim geblieben, weil sie meinten, dass es ohnehin eine "gmahde Wiesn" für die AKP und Erdogan sei. "Diesmal habe ich das Gefühl, dass alle gut mobilisiert haben."

Ekici bekannte sich auch zum Wahlrecht für Auslandstürken. Es sei "sehr befremdlich", wenn man ihnen das Wahlrecht wegnehmen wolle. Bei den Auslandsösterreichern in den USA werde dies auch nicht hinterfragt. Rhetorisch stellte sie die Frage, ob das Wahlrecht auch dann kritisiert würde, "wenn alle (Auslandstürken) Kilicdaroglu wählen würden?" Das Wahlrecht sei "ein total wichtiges und demokratisches Gut, das man wahrnehmen soll", betonte sie. Zugleich verwies sie auf die engen familiären und wirtschaftlichen Bindungen der Auslandstürken an ihr Herkunftsland. "Sie schicken auch ihre Euros in die Türkei, und das hinterfragt keiner."

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"Ich hänge emotional an meinem österreichischen Pass", bekannte die Politikerin. "Ich bin eine Tochter von Gastarbeitern, die Österreich aufgebaut haben. Da ist überall der Schweiß von meinen Vorfahren", betonte sie. Andere türkischstämmige Personen seien "emotional" stark mit der Türkei verbunden, aber auch bei ihnen "ist dieses Band zu Österreich da". Man müsse nur auf türkische Hochzeiten schauen, "bei denen Schnitzel und Kartoffelsalat serviert werden". Oder auf die Tatsache, dass nur wenige in ihrer Pension dauerhaft in die Türkei zurückkehren. "Meine Mutter würde nichts in die Türkei bringen", sagte die frühere Wiener ÖVP-Integrationssprecherin.

Befragt zur Doppelstaatsbürgerschaft sagte Ekici, die politische Diskussion in Österreich sei diesbezüglich "nicht so weit wie in Deutschland, und das ist zu respektieren". Zudem erleichtere der "blaue Ausweis" der Türkei, der bestimmte Vorrechte wie etwa für längere Aufenthalte gebe, die Entscheidung für den österreichischen Pass. Offen zeigte sich Ekici für das Wahlrecht von Drittstaatsangehörigen auf kommunaler Ebene wie etwa bei Bezirksvertretungswahlen in Wien. "Damit hätte ich kein Problem", sagte sie.

(Das Gespräch führte Stefan Vospernik/APA)