Festspielintendant Hinterhäuser: "Kunst ist politisch"
APA: Herr Hinterhäuser, in den vergangenen Monaten waren Sie sehr beschäftigt - mit schweren Rückenschmerzen und mit dem Nachdenken darüber, ob Sie sich um eine Vertragsverlängerung bewerben wollen. Was hat diese Zeit mit Ihnen gemacht?
Markus Hinterhäuser: Ich hab' ein Jahr hinter mir, das alles andere als erfreulich war - in gesundheitlicher Hinsicht, aber auch in manch anderer Hinsicht. Ich war mir lange nicht sicher, ob und wenn ja, wie, ich bei den Festspielen weitermachen könnte oder sollte. Ich war mir allerdings sicher, dass zehn Jahre als Intendant auch ausreichend gewesen wären. Intendant der Salzburger Festspiele zu sein, ist das größte Privileg meines Lebens - aber ich bin kein Sesselkleber, ich halte mich nicht für unersetzbar. James Joyce hat einmal über sich gesagt: "Ich bin ein Mann mit einer großen Zukunft hinter mir." So weit werde und möchte ich es bestimmt nicht kommen lassen. Auch deshalb haben das Kuratorium und ich uns auf eine mögliche Ausstiegsklausel für das Jahr 2029 geeinigt.
Beim Nachdenken über die Verlängerung spielte auch die Generalsanierung und Erweiterung der Festspielhäuser keine unbedeutende Rolle. Das wird wahrscheinlich die größte Herausforderung in der Geschichte der Salzburger Festspiele. Ich kenne Ausnahmesituationen, denken Sie nur an das Jahr 2020, das berühmte Corona-Jahr, in dem wir weltweit die einzigen waren, die so etwas wie Festspiele möglich gemacht haben - und ich kenne die Festspiele und die Stadt sehr gut.
Meine Bewerbung war dann so etwas wie eine Frage und ein Angebot an das Kuratorium: Wenn ihr das Gefühl habt, dass ich in der ersten Zeit der Generalsanierung etwas beitragen kann, dann tue ich das von Herzen gerne. Wenn nicht, ist das vollkommen in Ordnung für mich. Das Kuratorium hat mir dann das Vertrauen ausgesprochen.
APA: Einen Intendanten braucht man doch für künstlerische Visionen und nicht zum Bewerkstelligen eines Umbaus? Dafür braucht man vor allem einen guten Architekten und einen guten kaufmännischen Chef.
Hinterhäuser: Das sehe ich ganz anders. Wir sind die Salzburger Festspiele! Wir sind ja kein Bauunternehmen! In den Jahren, die vor uns liegen, werden so viele Entscheidungen zu treffen sein, die direkt in das Herz der Festspiele gehen - allein wenn ich daran denke, dass möglicherweise das Große Festspielhaus für ein, zwei Jahre gar nicht zur Verfügung stehen wird. Die von Ihnen angesprochenen künstlerischen Visionen werden sich wohl oder übel nach den Gegebenheiten des Umbaus und der Generalsanierung zur richten haben. Dafür braucht es einen Intendanten.
APA: Man könnte das doch auch als Chance sehen, die Festspiele für eine gewisse Zeit unter anderen Gegebenheiten neu zu erfinden?
Hinterhäuser: Das wird mir in gewisser Weise nicht erspart bleiben, und das meine ich keineswegs negativ. Die Karten neu zu mischen ist eine sehr relative Angelegenheit. Die Festspiele müssen bestehen bleiben. Sie sind auch ein Arbeitgeber für 240 Menschen, für die man Sorge tragen muss. Es wird ein intelligenter Pragmatismus, ein kreativer Pragmatismus von Nöten sein.
APA: Haben Sie schon Vorstellungen für neue oder reaktivierte Spielstätten?
Hinterhäuser: Wir sind jetzt in einer Phase, in der wir alle Möglichkeiten einer Prüfung unterziehen. Das beinhaltet etwa auch die Idee einer temporären Überdachung des Domplatzes. Das kann man alles aber nicht so aus der Hüfte schießen, da braucht es auch die Bereitschaft zu investieren. Salzburg ist keine Stadt, in der leere Industriehallen herumstehen. Ein, zwei Jahre wäre ein Zeitraum, den man mit einem gewissen Charme bewältigen könnte. Es wird aber wesentlich länger dauern - und ein massiver Eingriff in die Logik der Salzburger Festspiele sein.
APA: Meine Eingangsfrage meinte Sie auch persönlich, etwa als Künstler, als Pianist. Zu welchen Schlüssen sind Sie da gekommen?
Hinterhäuser: Es gibt ein schönes Gedicht von Rilke, in dem es heißt: "Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern." Wie man das Leben bewältigt, hat jeder für sich zu entscheiden. Ich kenne meine energetischen Möglichkeiten. Ich weiß, was ich mir zumuten kann. Es gibt eben Phasen, in denen es einem nicht so gut geht. In meinem Fall war es das letzte Jahr mit den wirklich intensiven Rückenschmerzen. Das lässt sich aber bewältigen. Schlimm war nur, dass ich deshalb monatelang nicht Klavierspielen konnte - das Klavier ist ja mein Ladekabel. Das brauche ich zum Aufladen meiner Batterien.
APA: Im Festspielprogramm 2024 sieht man: Sie haben eine Linie gefunden, und Sie haben Kollaborateure gefunden. Das Ergebnis scheint gewesen zu sein: Ich mache so weiter wie bisher. Es hätte ja auch sein können: Ich möchte etwas Neues versuchen!
Hinterhäuser: Das wird auch passieren. Um ein wenig Geduld muss ich aber auch bitten. Der Planungsvorlauf in der Oper ist zu groß, als dass es zu ganz schnellen Entscheidungen kommen könnte. Das ändert jedoch nichts an meiner Überzeugung, dass die letzten Jahre, so wie ich sie gemacht habe, nicht ganz falsch gewesen sind. Für mich nicht und auch für die Festspiele nicht. Das sehe ich am Zuspruch des Publikums und der Künstler, aber auch am Kartenverkauf. Eine gewisse Treue zu dem einen oder anderen Künstler, der einen oder anderen Künstlerin, ist wichtig für mich. Das gibt einem Festival Identität und Form. Dieser Gier, ständig etwas vermeintlich Neues bieten zu müssen, der kann und möchte ich nicht folgen. Es gibt einen wunderbaren Satz des Künstlers Martin Kippenberger: "Ich kann mir nicht jeden Monat ein Ohr abschneiden!" Wir brauchen alle ein bisschen Zeit und Vertrauen. Romeo Castelluccis Inszenierung des "Don Giovanni" werden wir diesen Sommer wieder erleben können, nicht als Wiederaufnahme, sondern als Neueinstudierung. Eine Inszenierung noch einmal zu überdenken und Modifikationen vorzunehmen, auch das gehört zum Vertrauen und zur Treue, die ich einem so großen Künstler wie Romeo Castellucci entgegenbringen möchte. Ich bin absolut nicht bereit, dass ich eine Produktion nach einer Spielzeit einfach verschwinden lasse. Das ist eine Einstellung, die ich nicht habe und niemals haben werde. Diesem Ennui, der mir zum Teil von der Kritik entgegengebracht wird, dem will ich nicht folgen.
APA: Um auf Kippenberger zurückzukommen: Gemeinhin hat der Mensch zwei Ohren, aber der Intendant der Salzburger Festspiele hat ungleich mehr Möglichkeiten - etwa, Aufträge zu vergeben oder Neuigkeiten zu bringen.
Hinterhäuser: Da schwingt unterschwellig der Vorwurf mit, dass ich das nicht gemacht hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe in den letzten Jahren etwa in der Oper kontinuierlich einen Generationswechsel bei den Wiener Philharmonikern eingeleitet. Es gab hier eine wirkliche Entdeckung, Maxime Pascal, der auch 2026 hier eine große Oper dirigieren wird. Es gab eine weitere Entdeckung, Raphael Pichon. Joana Mallwitz hat hier zum ersten Mal die Wiener Philharmoniker dirigiert, heuer ist es Mirga Grazinyté-Tyla. Mit Mariame Clément gibt es in diesem Sommer eine ganz neue Regisseurin. Wir haben Sängerinnen entdeckt von Asmik Grigorian bis Ausrine Stundyte. Ihre Analyse ist ein bisschen einfach, wenn ich das so sagen darf.
APA: Bei den Werken sieht es anders aus, bei Stückaufträgen etwa.
Hinterhäuser: Ich glaube nicht, dass man mir den Vorwurf machen kann, im Lauf meiner Salzburger Tätigkeit zu wenig für das, was man noch immer als Neue Musik bezeichnet, getan zu haben. Die Neue Musik ist bei den Salzburger Festspielen eine Selbstverständlichkeit geworden. Man soll sich doch nur anschauen, was alles an Stücken des 20. und 21. Jahrhunderts in unserem Programm zu finden ist - ganz selbstverständlich, einfach so! Die Frage, wann es richtig und auch welche Konstellation richtig sein könnte, um hier die Uraufführung einer Oper zu ermöglichen, ist eine Frage, über die ich nachdenke. Das Selbstverständnis eines Intendanten, der, einem Ludwig XIV. der Kultur gleich, einen Ritterschlag vollführt, indem er einen Auftrag vergibt, habe ich niemals für mich in Anspruch genommen. Wenn eine Uraufführung das einzige sein sollte, das zählt, muss ich sagen: Nein, hab' ich nicht gemacht. Werde ich aber vielleicht noch tun.
Von außen betrachtet ist es immer sehr einfach zu be- und dann auch zu verurteilen. Aber so einfach und läppisch ist das nicht. Ich kenne die Möglichkeiten der Salzburger Festspiele sehr gut - und ich glaube, dass ich in den letzten Jahren ein extrem anspruchsvolles Programm gemacht habe - in jeder Hinsicht. Wir haben echte Entdeckungen gemacht: "Intolleranza", "Die Bassariden", "Die griechische Passion" ... Ich bin planetenweit davon entfernt, in eine Art von Selbstzufriedenheit zu geraten - aber was ich möchte, ist, dass man bei der Betrachtung der Möglichkeiten der Salzburger Festspiele nicht ständig in die Klischeefalle tappt. "Der Idiot" ist seit der Uraufführung genau dreimal aufgeführt worden, ein Blockbuster sieht anders aus. Und eine nahezu unbekannte vierstündige Oper zu programmieren ist durchaus ein Wagnis.
APA: Sie haben die Salzburger Festspiele stets in einem gesellschaftlichen Zusammenhang positioniert, in Theorie und Praxis - bis hin zu Begleitveranstaltungen wie den Festspiel-Dialogen, die heuer unter dem Motto "Revolte und Resignation" angekündigt sind. Wie sehr schlägt sich die immer kritischere Weltlage aufs Gemüt und aufs Programm?
Hinterhäuser: Es könnte zu einer Art von Resignation führen, es könnte aber auch das Gegenteil bewirken, nämlich zu einem Wissen über die Relativität der Möglichkeiten führen. Wir können nicht die Klimakatastrophe lösen, wir können nicht diesen scheußlichen Krieg in der Ukraine lösen, wir können nicht das Hamas-Israel-Problem lösen. Wir können keine Antworten geben, aber wir sind verpflichtet, Fragen zu stellen, die dann vielleicht doch zu einer Stärkung unseres Bewusstseins führen. In Zusammenhang mit der Klimakatastrophe wird von uns immer wieder gefordert, keine Orchester mehr einzuladen, die von weit herkommen. Ich verstehe das auch. In Fragen der Nachhaltigkeit tun wir im Rahmen unserer Möglichkeiten wirklich alles. Aber die "Big Points", die müssen schon von der Politik kommen. Eine merkbare Erhöhung der Kerosinsteuer, das wäre tatsächlich ein Quantensprung in der Debatte um die Klimakatastrophe.
APA: Mozart, die französische Revolution und die Aufklärung sind untrennbar miteinander verbunden - und wirken bis heute nach. Braucht es jetzt nicht tatsächlich mehr als bisher, um die Politik zum richtigen Handeln zu bewegen?
Hinterhäuser: Soll ich mich jetzt als Schmalspur Che Guevara gerieren? Das tue ich nicht. Als Institution versuchen wir, Fragen zu stellen, Fragen zu schärfen. Und diese Fragen sind politisch. Kunst ist politisch. Es gibt kein großes Kunstwerk, das in einem politikfreien Raum entstanden ist. Kunstwerke, die hunderte Jahre jung sind, unter ein imaginäres Mikroskop zu legen und zu untersuchen, was sie uns heute erzählen können, welche Erkenntnisräume sich uns durch einen Don Giovanni, einen Spieler oder Weinbergs Idioten eröffnen können - das interessiert mich! Und es scheint mir auch ergiebiger, als in der Attitüde eines Sonnenkönigs Aufträge zu verteilen, an die sich keine weiteren Fragen anschließen. Ich kann mit der allergrößten Sicherheit sagen, dass die Aufführung der "Griechischen Passion" eine echte Erschütterung im Publikum ausgelöst hat - so wie zuvor "Intolleranza" von Luigi Nono. Dass sich jemand vollkommen loslöst von einem gesellschaftlichen Regelwerk wie es Don Giovanni tut, führt zu einem Nachdenken. Der Spieler ist eine geradezu emblematische Figur unserer Zeit. Es wird mit allem gespielt, mit Bitcoins, mit dem Klima, mit unserer Welt, mit unserer Existenz. Wir sind von Spielern umgeben! Was uns diese Oper erzählt, oder auch was in Weinbergs "Der Idiot" verhandelt wird, das alles sind hochpolitische Fragen, die uns anzugehen haben und die etwas auslösen werden. Davon bin ich überzeugt.
APA: Themenwechsel: Was schätzen Sie, wie viele Besucherinnen und Besucher der Salzburger Festspiele sprechen Litauisch?
Hinterhäuser: Die Frage ist als Provokation gemeint, oder?
APA: Natürlich. Davon lebt ja ein Gespräch. Sie haben angekündigt, mit Ihrer neuen Schauspielchefin Marina Davydova wegkommen zu wollen von der Dominanz der deutschen Sprache im Schauspiel, die so viele Festspielbesucher ausschließt. Wie weit sind Sie bei diesem Vorhaben?
Hinterhäuser: Dass Litauisch nicht gerade zu den Sprachen gehört, die man kennt und beherrscht, das wissen auch wir. Aber meine Erfahrung bei den Wiener Festwochen hat mir gezeigt, dass man schon nach ziemlich kurzer Zeit vollkommen vergisst, in welcher Sprache auf der Bühne gesprochen wird. Die Bilder und der Rhythmus einer Aufführung werden für den Zuseher dann wesentlicher als die ihnen fremde Sprache. Würden wir eine griechische Tragödie auf Griechisch machen, würden alle sagen: fantastisch! Warum sollte das, was bei den Wiener Festwochen eine Selbstverständlichkeit ist, nicht auch bei den Salzburger Festspielen möglich sein?
APA: Das sagt ja niemand.
Hinterhäuser: Na ja, im Unterton ... Aber konzedieren Sie mir, dass ich meine Arbeit noch immer mit Leidenschaft mache - und sie daher auch leidenschaftlich verteidige.
APA: Zum Schluss zwei Namen. Erstens: Florian Wiegand. Ihr Konzertchef wird nach München gehen und dort Intendant der Münchner Philharmoniker. Wie werden Sie damit umgehen?
Hinterhäuser: Das weiß ich noch nicht. Was ich gesichert sagen kann, ist, dass ich mich wirklich freue für ihn. Und dass ich ihn vermissen werde. Was für ihn wirklich schön ist, ist für mich nicht so wirklich schön. Für seine persönliche Lebensplanung ist es aber die ganz richtige Entscheidung. Mein Leben wird freilich dadurch nicht leichter. Wie das künftig aussehen wird, weiß ich noch nicht. Aber er verlässt ja die Festspiele erst nach der Saison 2025.
APA: Ist es unvorstellbar, dass Sie das künftig selbst machen werden?
Hinterhäuser: Auf die Gefahr hin, wieder unbescheiden zu wirken: Dass ich Konzertprogramme konzipieren kann, muss ich nicht wirklich mehr beweisen. Aber ich kann nicht alles machen! Ich kann nicht 80 Konzerte konzeptionell und in der Realisierung alleine bewältigen. Ich brauch' da schon jemanden.
APA: Name Nummer zwei: Kristina Hammer. Sie hat kürzlich Würth als neuen Hauptsponsor gebracht. Wie ist es derzeit, mit ihr zu arbeiten? Jeder weiß, dass das bisher nicht ganz friktionsfrei war...
Hinterhäuser: Jeder weiß das? Na dann ... Aber es ist ja nicht so, dass Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten per se negativ sein müssen. Es ist nur natürlich, dass der Wechsel nach so vielen Jahren mit Helga Rabl-Stadler auch eine Umstellung im Stil und in der Art und Weise, wie gearbeitet wird, mit sich bringt. Das ist für alle Seiten ein Lernprozess. Wir raufen uns zusammen. Und: Ich war weiß Gott auch mit Helga Rabl-Stadler nicht immer der gleichen Meinung, und dennoch haben wir fantastisch zusammengearbeitet.
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
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