Festwochen zeigen Jesu Leidensgeschichte aus Frauensicht

Das Leben in diesem "Gospel" ist in Unordnung
Die Leidensgeschichte Jesu ist kein Spaß - so auch nicht in der Form eines Oratoriums des US-Minimalisten John Adams. Die erste Inszenierung seines 2012 entstandenen "Gospel according to the other Mary" in Österreich im Rahmen der Wiener Festwochen reihte sich am Samstag in der Volksoper nahtlos in die Festivalbestrebungen ein, Perspektivverschiebungen zu bieten und auf Altbekanntes einen neuen Blick zu werfen. Und was wäre altbekannter als die Bibel?

Im von Starregisseur Peter Sellars geschriebenen Libretto, das überdies auf literarische Stimmen wie Dorothy Day, Hildegard von Bingen oder Primo Levi zurückgreift, wird Jesu Leben nicht wie in der Bibel primär aus seiner Nahsicht, sondern aus jener der Nebenfiguren Maria Magdalena und deren Schwester Martha erzählt. Hatte vor einer Woche Florentina Holzinger noch die Kirchengeschichte aus weiblicher Perspektive neu geschrieben, ist es hier die Um-Schreibung des Geschehens aus der Sicht von sonst als Nebenfiguren behandelten Charakteren.

Regisseurin Lisenka Heijboer Castañón gestaltet hierfür einen bewusst gesplitteten Abend - stilistisch wie qualitativ. Teil 1, der während der Schaffens- und Lebenszeit des Erlösers spielt, wird von der Theatermacherin in ein Setting gestellt, das an US-Sitcoms der 90er erinnert. Immer sitzen Freundinnen und Freunde in der Küche zusammen, in die dann eine weitere Figur mit Neuigkeiten hineinplatzt. Es ist eine WG der Ausgestoßenen, eine Gemeinschaft der queeren Personen, die an Filme von Pedro Almodovar erinnert.

In dieser Gemeinschaft ist Jesus gleichsam nur als Überfigur, aber nie persönlich präsent. Ein bisschen wie ein "Warten auf Godot" des 21. Jahrhunderts, ist der Heiland nur in der Erzählung der anderen präsent. Nicht Jesus und seine Hawara, sondern Jesu Hawara ohne ihn. Heijboer Castañón positioniert diese Gruppe rund um Maria - ein Beispiel des hingebenden Glaubens - und ihre Schwester Martha - die gute Seele einer Heimstatt für arbeitslose Frauen - in einer sich permanent drehenden Box mit Schiebewänden. Der Chor ist in dieser Phase nur akustisch präsent und entsprechend verwaschen von der Hinterbühne zu hören.

Im 2. Teil, der der Kreuzigung und Wiederauferstehung gewidmet ist, verabschiedet sich die Inszenierung jedoch vom Drehkreisel und setzt einen harten Schnitt. Nun ist der Chor endlich auch auf der ansonsten leeren Bühne präsent, was nicht nur eine akustische Verbesserung, sondern auch einen inszenatorischen Quantensprung darstellt. Hier gelingen Regisseurin Heijboer Castañón mit einem Male poetische Bilder mit einfachen Mitteln. Sturmmasken kommen auch zum Einsatz und dürften somit Festwochen-Intendant Milo Rau erfreuen, reiht sich der Abend hiermit doch ins Festival-Branding ein. Vornehmlich jedoch entstehen hier subtile, einfache, einprägsame Bilder als moderat bewegte Tableaux vivants. Das Thema wird lyrischer verhandelt, abstrakter und damit wohl auch adäquater.

Besonders hier wird die herausragende Leistung der Choreuten deutlich, aber auch die Solistinnen und Solisten tragen ihren Teil zu einem in Summe erfolgreichen Abend bei. Ensemblemitglied Wallis Giunta zeigt als Mary einen satten, gereiften Sopran, der schlicht beglückt. Und die ebenfalls im Volksopern-Ensemble beheimatete Altstimme von Jasmin White ist solch eine Wucht, dass auch der sehr metallische Tenor von Alok Kumar als Lazarus verschmerzt wird.

"The Gospel according to the other Mary" ist dabei nicht das stärkste Werk von John Adams ("Nixon in China"). Gerade im ersten Teil setzt er relativ undifferenziert auf eine Dauerspannung, die sich im zweiten Teil subtiler gestaltet, auch kontemplativere Momente zulässt und die Monotonie bricht. Der heute 77-Jährige greift für sein "Opern-Oratorium" auf seinen bekannten Stilpluralismus zurück, der Minimal Patterns und Cluster beinhaltet, aber auch große Melodiebögen in spätromantischen Stil nicht scheut. Vielstimmig im wahrsten Sinn des Wortes eben, was auch für den Abend als solchen zutrifft.

(Von Martin Fichter-Wöß/APA)

(S E R V I C E - "The Gospel according to the other Mary" von John Adams und Peter Sellars im Rahmen der Festwochen in der Volksoper, Währinger Straße 78, 1090 Wien. Musikalische Leitung: Nicole Paiement, Regie: Lisenka Heijboer Castañón, Bühne: Sarah Nixon, Bühnenbild/Licht/Video: Hendrik Walther, Kostüme: Carmen Schabracq. Mit Mary - Wallis Giunta, Martha - Jasmin White, Lazarus - Alok Kumar, 1st Countertenor - Jaye Simmons, 2nd Countertenor - Christopher Ainslie, 3rd Countertenor - Edu Rojas, u.a. Weitere Aufführungen am 18., 21., 24. und 30. Juni. www.volksoper.at)

Kommentare