Neue Volksoper-"Carmen" als Berserkerin der Freiheit
Alles beginnt im altvaterischen Ambiente gemalter Kulissen, wo sich die Soldaten und Zigarettenmädchen tummeln. Doch die von Katia Ledoux interpretierte Carmen macht Schritt für Schritt Schluss mit diesem herkömmlichen Ambiente für ihre Figur, stößt die Staffage schlicht um. Wird bei Deutungen von Bizets 1875 uraufgeführter Oper sonst meist die Isolation der Figur Carmen, ihre Fremdheit im Umfeld kaschiert, stellt de Beer diese explizit heraus.
Während die übrigen Figuren im traditionellen Kostüm der Zeit gewandet sind, ist Carmen durch die Szenen hinweg im dunklen Overall präsent. Wird ihr anderes aufgedrängt, wirft sie es alsbald von sich. Sie ist ein Fremdkörper, eine Berserkerin der Freiheit, die als starker Charakter wie eine Zeitreisende in ein Werk, in ein patriarchales Genre aus einer anderen Zeit geworfen scheint.
Ihr selbst wird dies sukzessive bewusst, deckt sie doch nur langsam die Künstlichkeit der Kulissen auf oder entlarvt den vermeintlichen Sternenhimmel über der Taverne als schlichten Vorhang. Letztlich sieht sich Carmen auf der Bühne mit den Logen einer Oper konfrontiert, in denen sich der Chor versammelt. Ihre Figur ist Objekt der Schaulust und letztlich wie in der legendären "Truman Show" anfangs die einzig unwissende Protagonistin in einem abgekarteten Spiel, das sie sich nicht ausgesucht hat und an dessen Ende ihr Tod stehen wird.
So hindert sie gar das Bühnen-Publikum an der Flucht, wenn sie der enttäuschte Liebhaber Don José angreift, applaudiert schließlich ihrer Leiche. Die misogyne Gesellschaft hat zurückgeschlagen. Carmen kann dem Schicksal ihrer Rolle nicht entrinnen. Und doch hätte Regisseurin de Beer die Entfremdung der Figur von ihrer Partie, die Kritik an einer Publikumshaltung durchaus noch eine Stufe weitertreiben können. Am Ende schreckt sie davor zurück, ganz das Korsett des Stücks zu verlassen und sah sich doch mit dem Rest des Regieteams vehementen Buhs gegenüber.
Dabei wurde mit Ensemblemitglied Katia Ledoux die ideale Besetzung für diese Carmen gefunden. Ledoux ist nicht die laszive Verführerin, sondern aktive Beobachterin des Geschehens, die an den Männern letztlich kein Interesse hat. Auch der Mezzosopran der Wienerin, der weniger einschmeichelnd als geradlinig daherkommt, gliedert sich nahtlos in das Regiekonzept ein.
Anders sieht die Lage im männlichen Teil des Ensembles aus. Carmen spielt auch in dieser Deutung des Stücks die Männer an die Wand, wenn Josef Wagner als Escamillo mehr grundelt denn charismatischer Stierkämpfer ist, während Tomislav Mužek als Don José nicht nur mit seiner Partnerin, sondern auch dem Schmelz in der Höhe zu kämpfen hat. Neo-Musikdirektor Ben Glassberg nimmt die Partitur indes schnell, hält sich nicht mit Details auf. Schließlich wartet das Publikum doch auf den finalen Mord an einem unbotmäßigen, weil freien Charakter.
(Von Martin Fichter-Wöß/APA)
(S E R V I C E - "Carmen" von Georges Bizet in der Volksoper, Währinger Gürtel 78, 1090 Wien. Dirigent: Ben Glassberg, Regie: Lotte de Beer, Bühnenbild: Christof Hetzer, Kostüme: Jorine van Beek, Licht: Alex Brok. Mit Carmen - Katia Ledoux, Don José - Tomislav Mužek, Escamillo - Josef Wagner, Micaëla - Iulia Maria Dan, Frasquita - Alexandra Flood, Mercedes - Sofia Vinnik, Zuniga - Alexander Fritze, Morales - Michael Arivony, Remendado - Karl-Michael Ebner, Dancaïro - Marco Di Sapia, Lillas Pastia - Gerhard Kasal, Verkäuferin - Angela Riefenthaler, Schmuggler - Stefan Tanzer. Weitere Aufführungen am 24. und 27. September, am 3., 6., 11., 16., 21. und 29. Oktober sowie am 6., 10., 16., 25. und 28. Mai 2025. www.volksoper.at/produktion/carmen-2024.de.html)
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