APA - Austria Presse Agentur

OSZE befürchtet viel mehr Korruption und Menschenhandel

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) befürchtet einen massiven Anstieg von Korruption und Menschenhandel, weil die staatlichen Behörden in der Coronakrise überfordert sind. "Die Kriminellen passen sich rasch an die Systemschwächen an, die durch die Covid-Krise hervorgerufen werden", warnte OSZE-Generalsekretär Thomas Greminger (59) im APA-Interview.

"Wir vermuten, dass wir in den nächsten Monaten sehr viel mehr Korruption sehen werden, gerade auch wenn diese großen Geldmittel eingesetzt werden, um die Wirtschaft wieder zu beleben", sagte Greminger mit Blick auf die billionenschweren Corona-Hilfspakete. "Wir befürchten auch, dass der Menschenhandel wieder zunimmt", sagte der Schweizer Diplomat. Durch die plötzliche Einführung der Kontrollen an den Binnengrenzen seien etwa die Grenzbehörden im Schengen-Raum "total überfordert". Mit Blick auf die nun an anderen Stellen fehlenden Ressourcen zeigte er sich "überzeugt, dass das (von Kriminellen) ausgenutzt wird".

Greminger warnte auch davor, Konfliktgebiete wie die Ukraine aus dem Auge zu verlieren. "Es wäre jetzt sehr gefährlich, das Konfliktmanagement herunterzufahren und die vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen nicht mehr konsequent umzusetzen", sagte er mit Blick auf den Kernbereich der OSZE-Aktivitäten, die als wichtigstes Dialogforum zwischen Russland und den NATO-Ländern gilt, aber auch mit Feldmissionen in zahlreichen Konfliktgebieten Osteuropas, Zentralasiens und am Balkan präsent ist.

Der Ukraine-Konflikt nehme weiterhin den Großteil der Arbeitszeit der OSZE in Anspruch, sagte Greminger. Die Beobachtungsmission (SMM) habe ihre Patrouillen in der Ostukraine eingeschränkt und setze stärker auf technische Hilfsmittel. Allerdings kommen die Beobachter derzeit kaum in die von den Rebellen kontrollierten Gebiete, weil die dortigen Machthaber strikte Quarantäneregelungen durchsetzen wollen. Es sei aber "ein Ding der Unmöglichkeit", dass die Beobachter bei jeder Patrouillenfahrt 14 Tage in Isolation sollen. "Das stellt die Nachhaltigkeit der Mission wirklich auf die Probe", sagte Greminger.

Der OSZE-Generalsekretär zeigte sich auch besorgt über die deutliche Zunahme von militärischen Zwischenfällen in der Ostukraine, wobei auch in nächster Nähe der Beobachter geschossen werde. "Man schießt, obwohl man vermuten muss, dass die SMM im Raum ist, und das ist sehr beunruhigend. Allein in den letzten acht Tagen gab es vier solcher Vorfälle", sagte Greminger, der auch auf einen deutlichen Anstieg ziviler Opfer in jüngster Zeit verwies. Auch wenn er "nicht ganz pessimistisch klingen" wolle, müsse er sagen, dass die Dynamik nach dem Pariser Ukraine-Gipfel Anfang des Jahres "ganz klar verflacht" sei. "Ich würde sagen, dieses Window of Opportunity ist schon noch da, aber es scheint mir nicht so weit offen und nicht mehr so einladend zu sein", sagte er.

Allgemein beklagte Greminger, dass die Coronakrise die Tendenz zu "sehr nationalen Reflexen, Alleingängen und unilateral isolationistischen Ansätzen verstärkt" habe. Er selbst habe "vielleicht naiverweise" gehofft, dass die Coronakrise etwa zu einer Solidarisierung der OSZE-Staaten führen werde. Tatsächlich sei es so, dass die Organisation immer noch kein Budget für heuer habe. Dabei sei es so, dass Kooperation der einzige Ansatz sei, "um einer solchen transnationalen Bedrohung Herr zu werden", hofft Greminger auf mehr Zusammenarbeit der Staaten, aber auch, "dass wir wieder vermehrt aufgeklärte Politiker und Politikerinnen haben, die den Wert solcher Ansätze auch zu schätzen wissen". "Da ist eigentlich alles da, man müsste diese Instrumente nur systematischer und konsequenter nützen", betonte der OSZE-Generalsekretär.

Greminger zeigte sich zufrieden, dass die OSZE ihre Arbeit auch in der Coronakrise im Großen und Ganzen fortsetzen konnte. Trainings würden über E-Learnings abgewickelt, der Austausch von militärischen Informationen zur Vertrauensbildung erfolge online. "Wir sind unter den ersten internationalen Organisationen, die sehr rasch online gegangen sind. Wir machen momentan alles online", sagte der Generalsekretär, der die APA im gähnend leeren Sekretariatsgebäude in der Wiener Innenstadt empfing. Wo sonst über 400 Menschen arbeiten, seien aktuell "vielleicht ein Dutzend" physisch anwesend. "Ich bin eigentlich nur hier, weil ich hier die besten Internetverbindungen habe", sagte Greminger mit Blick auf einen riesigen Bildschirm für Videokonferenzen, den er direkt vor seinen Schreibtisch platziert hat.

So sind die wöchentlichen Sitzungen der Botschafter der 57 OSZE-Staaten auch in der in der Coronakrise nicht ausgefallen. Sie finden per Videoschaltung statt und auch Entscheidungen trifft die Organisation online. "Wenn eine Entscheidung angefordert wird, muss halt eine längere Pause gemacht werden. Man gibt 60 Sekunden, um zu reagieren", erläuterte Greminger. Eine Wiederaufnahme der Ratssitzungen in der Hofburg sei geplant, aber wohl in ausgedünntem Format. Auch das jährliche Treffen der OSZE-Außenminister am Jahresende soll stattfinden, wenn auch möglicherweise nicht als Großveranstaltung mit 1.500 Delegierten.

Ab kommender Woche soll ein Teil der Mitarbeiter wieder ins Sekretariat zurückkehren, doch werden es kaum mehr als ein Fünftel sein können, weil die OSZE die österreichischen Distanzierungsvorgaben "strikt einhalten" werde. Den mehr als 3.200 Mitarbeitern der OSZE-Missionen sei die Möglichkeit zu Homeoffice, auch in ihren Heimatländern, gegeben worden, doch seien die meisten in ihren Einsatzländern geblieben.