Physiker starten Suche nach Dunkler Materie tief im Berg
Wenn man von der Adriaküste nach L'Aquila, der Hauptstadt der italienischen Region Abruzzen fährt, muss man in einem zehn Kilometer langen Autobahntunnel das bis zu knapp 3.000 Meter hoch aufragende Gran Sasso-Massiv durchqueren. Mitten im Tunnel gibt es eine Abzweigung zu den Laboratori Nazionali del Gran Sasso (LNGS), dem weltgrößten Untergrundlabor. Nur autorisierte Personen und Fahrzeuge dürfen diese Abfahrt nehmen, die vor einem riesigen Metalltor endet.
Wer sich dahinter in James-Bond-Manier ein strahlend weißes oder chromblitzendes Hightech-Labor erwartet, ist auf den ersten Blick enttäuscht. Vielmehr hat man den Eindruck eines Bergwerks oder eines Kellers mit unzähligen Rohren, Kabeln, Ventilen, großen Tanks und kleineren Gasflaschen mit Warnschildern für flüssigen Stickstoff, Helium, Argon, usw. dazwischen einige Personen mit Helmen.
Tatsächlich verbirgt sich die Hochtechnologie hinter riesigen Stahlkonstruktionen und Containern. Sie stehen dichtgepackt in drei 100 mal 20 Meter großen, 18 Meter hohen unterirdischen Hallen und den Verbindungsgängen dazwischen, einige davon reichen fast bis zur Decke.
Die Suche nach sehr schwachen oder sehr seltenen Signalen, die verschiedene Elementarteilchen bei der Interaktion mit der Materie in Detektoren entstehen lassen, steht im Mittelpunkt der meisten Experimente. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Neutrinos, wie sie etwa in der Sonne entstehen, oder der Dunklen Materie.
Alleine fünf große Experimente widmen sich in dem Untergrundlabor mit unterschiedlichen Ansätzen und Detektoren der Suche nach der Dunklen Materie. Das jüngste davon ist das Experiment COSINUS (Cryogenic Observatory for Signatures seen in Next-generation Underground Searches), in dem österreichische, deutsche und italienische Wissenschafterinnen und Wissenschafter kooperieren.
Dunkle Materie ist nicht sichtbar, sondern zeigt sich nur durch ihre Gravitationswirkung: Wenn man sich anschaut, wie schnell sich Sterne um das Zentrum ihrer Galaxie bewegen, müssten sie eigentlich weggeschleudert werden. Weil das nicht passiert, geht die Wissenschaft von einer bisher unbekannten Materieform aus, die mit ihrer Gravitation die Galaxien zusammenhält.
Diese Dunkle Materie macht immerhin rund 85 Prozent der Masse des Universums aus. Doch wie sie beschaffen ist und woraus sie besteht, das ist eines der größten Rätsel der modernen Physik.
Mit verschiedenen Experimenten und Ansätzen versucht man seit Jahrzehnten vergeblich, Dunkle Materie nachzuweisen - bisher erfolglos. Einzig das seit 1995 in den LNGS laufende DAMA-Experiment (Dark Matter) liefert seit Jahren Signale, die auf ihre Existenz hindeuten - allerdings konnte dies bisher in noch keinem anderen Versuch bestätigt werden.
Die Ergebnisse des DAMA-Experiments sind insofern aufsehenerregend, als sie den Erwartungen der Physik entsprechen: Diese geht davon aus, dass die Dunkle Materie in unserer Galaxie wie ein diffuser Nebel verteilt ist.
Wenn die Sonne mit einer Geschwindigkeit von rund 220 Kilometer pro Sekunde (km/s) um das Zentrum der Galaxie kreist und gleichzeitig die Erde mit rund 30 km/s die Sonne umrundet, "bewegt sich die Erde im Lauf eines Jahres eine Zeit lang mit der Bewegungsrichtung der Sonne, ein halbes Jahr später in die Gegenrichtung", erklärte COSINUS-Sprecher Florian Reindl. Er arbeitet am Institut für Hochenergiephysik (HEPHY) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und dem Atominstitut der Technischen Universität (TU) Wien.
Die Erde verändert damit ihre Geschwindigkeit relativ zum Dunkle-Materie-Nebel: "Anfang Juni sind wir relativ zur Dunklen Materie am schnellsten, Anfang Dezember am langsamsten", sagte der Physiker zur APA. Aus diesem Grund sollte der Beschuss durch Dunkle Materie-Teilchen über das Jahr hinweg schwanken - mit einem Höhepunkt im Juni.
Vor einigen Jahrzehnten kam die Idee auf, diese Schwankungen zu messen und 1995 startete das DAMA-Experiment in den LNGS. Diese Anlage liefert über mehrere Ausbaustufen hinweg seit Jahrzehnten tatsächlich diese jahreszeitlich schwankenden Signale - bei "Dunkler-Materie-Gegenwind" stärkere, bei "Rückenwind" schwächere.
In zahlreichen anderen Experimenten weltweit wurde mit unterschiedlichen Methoden versucht, die DAMA-Ergebnisse zu bestätigen - bisher vergeblich. "Das ist ein Problem, das die Wissenschaft auf der ganzen Welt seit Jahren beschäftigt", so Reindl.
Die DAMA-Messungen sind daher auch umstritten, vermutet wird etwa, dass es sich bei den Signalen aufgrund der verwendeten Datenanalysemethode um statistische Artefakte handeln könnte. Erschwerend kommt hinzu, dass die Rohdaten des Experiments bisher nicht veröffentlicht wurden.
Reindl kam 2016 damals noch als Doktorand gemeinsam mit Karoline Schäffner vom Max-Planck-Institut für Physik (MPP) in Garching bei München auf die Idee, mit einem ähnlich aufgebauten, aber deutlich genaueren Experiment die DAMA-Resultate zu überprüfen. Die beiden Forscher arbeiten seither an der Detektorentwicklung und - nachdem sie einen der begehrten Plätze im Untergrundlabor erhalten haben - am Aufbau des Experiments COSINUS.
Neben ÖAW, TU Wien und MPP sind auch das italienische Istituto Nazionale di Fisica Nucleare, das die LNGS betreibt, und das Helsinki Institute of Physiks (Finnland) beteiligt. Fast drei Mio. Euro stecken allein in dem Versuchsaufbau im Untergrundlabor, dazu kommen noch die Kosten an den beteiligten Instituten.
Bei COSINUS wird für die Detektoren das gleiche Material wie bei DAMA verwendet, nämlich Natriumiodid (NaI). NaI-Kristalle sind Reindl zufolge weit verbreitet und werden für verschiedenste Detektoren eingesetzt. Für ein Tieftemperatur-Experiment wie COSINUS sei NaI allerdings weniger gut geeignet. Verwendet wird es dennoch, um die Vergleichbarkeit mit DAMA zu ermöglichen. Allerdings zeichnet sich der neue Versuchsaufbau durch eine deutlich höhere Genauigkeit aus.
Trifft ein Dunkle-Materie-Teilchen ein Atom des Detektors, würde es zwei Spuren hinterlassen: ein kurzer Lichtblitz und eine winzige Temperaturerhöhung des Detektors. Während DAMA nur das Lichtsignal misst, werden bei COSINUS Licht und Wärme registriert. Im Gegensatz zu den großen, rund 10 Kilogramm schweren NaI-Kristallen, die bei DAMA verwendet werden, kommen bei COSINUS nur 30 Gramm leichte Kristalle zum Einsatz, "weil sich ein kleiner Kristall bei der gleichen von einem Teilchen deponierten Energie mehr aufwärmt als ein größerer", so Reindl.
Die Detektor-Kristalle sind jeweils über einen Golddraht mit einem Thermometer verbunden, der bei einem Treffer den Temperaturanstieg registriert. Jeder Kristall steckt zudem in einem espressotassen-großen Becher aus Silizium. Trifft ein Teilchen ein Atom des Kristalls, sendet dieses einen Lichtblitz aus. Der Becher absorbiert dieses Licht und erwärmt sich dadurch - was wiederum registriert wird.
Um diese winzigen Temperaturveränderungen zu messen, müssen die Detektoren fast auf den absoluten Nullpunkt (minus 273 Grad Celsius) gekühlt werden. Dazu stecken sie in einem Kryostat, eine Art Kühlschrank, der u.a. mittels flüssigem Helium diese tiefe Temperatur erreicht. Das ganze ist zusätzlich noch von acht Zentimeter Kupfer abgeschirmt und steckt in der Mitte eines riesigen Wassertanks mit sieben Meter Durchmesser und Höhe.
All dies soll die Detektoren möglichst gut vor störenden äußeren Einflüssen abschirmen. "Besonders gefährlich für uns sind Neutronen", sagte Reindl. Diese entstehen etwa durch die kosmische Strahlung oder radioaktive Elemente in der Umgebung.
Wenn die kosmische Strahlung in der Erdatmosphäre auf Luftmoleküle triff, entstehen u.a. Myonen. Sie lassen sich nur schlecht abschirmen, weshalb man für viele Versuche in Untergrundlabore wie jenes im Gran Sasso geht. "Dort gibt es nur ein Millionstel der Myonen auf Meeresniveau ohne schützende Gesteinsschichten", betonte der Physiker.
Einzelne dieser Elementarteilchen schaffen es aber auch durch 1.400 Meter Gestein und können bei der Kollision mit Atomen Teilchenschauer erzeugen, die wiederum die für das Experiment unerwünschten Neutronen enthalten. Der Vorteil ist, dass man sie relativ leicht nachweisen kann: Wenn ein Myon den schützenden Wassertank von COSINUS durchdringt, entsteht - wie in Abklingbecken von Kernkraftwerken - die sogenannte Tscherenkow-Strahlung. "Wenn wir dieses blaue Licht registrieren, löschen wir genau diese Zeit aus den Daten, denn dann wissen wir, dass das ein Myon und kein Dunkles-Materie-Teilchen war", sagte Reindl.
Zudem ist in den Versuchshallen der LNGS der Neutronenfluss aufgrund der sehr geringen Menge an radioaktiven Elementen im umliegenden Gestein etwa tausendmal kleiner als an der Oberfläche. Verirrt sich doch noch ein Neutron in das Labor, kann es gut durch das Wasser und den Kupfermantel abgeschirmt werden.
Höchste Vorsicht ist aber geboten, dass die für das Experiment verwendeten Materialien nicht durch radioaktive Atome verunreinigt sind - "je näher zum Detektor, umso kritischer wird es", so Reindl. Deshalb wird sich hochreines destilliertes Wasser im Tank befinden. Auch die Kupferabdeckung ist speziell für das Experiment produziert und ebenfalls sehr rein. "Die größte Herausforderung ist, die Detektorkristalle so rein zu bekommen, dass da keine Verunreinigungen enthalten sind", sagte der Physiker.
Anhand der Kombination von Temperatur- und Lichtmessung können die Wissenschafter jedenfalls Dunkle Materie eindeutig von anderen Teilchen unterscheiden. Zudem können sie den Energieübertrag messen, wenn ein Dunkles-Materie-Teilchen auf einen Atomkern trifft.
Um daraus seine Masse oder seine Geschwindigkeit (kinetische Energie) zu rekonstruieren, werden allerdings viele Daten von verschiedenen Atomkernen benötigt, und auch das passende theoretische Modell. "Von einer Entdeckung bis zur genauen Vermessung ist es ein sehr weiter Weg", so Reindl.
Auch wenn COSINUS am Donnerstag bereits offiziell eröffnet wurde, wird noch emsig an der riesigen Konstruktion gearbeitet. Der Kryostat mit den Detektoren ist bereits gekühlt und befindet sich im Wassertank, der allerdings noch nicht gefüllt ist. In den nächsten Monaten wollen die Wissenschafter den Versuchsaufbau fertigstellen, alle Komponenten testen und noch in diesem Jahr mit den Messungen starten.
"Wir haben sehr lange auf diesen Augenblick hingearbeitet und jetzt wollen wir endlich loslegen", sagte Reindl. Ende nächsten Jahres sind dann erste Ergebnisse zu erwarten. Nach einer ersten Phase mit acht Detektorkristallen soll dann eine zweite Messphase mit bis zu 24 Kristallen anschließen.
Laut Reindl "wartet die wissenschaftliche Welt darauf, dass COSINUS nicht diese Signale sieht, die bei DAMA registriert werden - dann würde der Ball wieder bei den Betreibern dieses Experiments liegen, ihre Daten zu erklären".
Der Physiker geht aber bewusst offen an die Sache heran, "wir müssen jetzt einmal gescheit messen, dann können wir darüber reden". Sein Wunsch sei jedenfalls "ein eindeutiges Ergebnis - ich würde es gerne ganz klar ausschließen oder ganz klar bestätigen - irgendetwas mitten drin, würde mich unzufrieden machen".
(Von Christian Müller/APA)
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