Politologin: Parteien wie FPÖ nutzen Repräsentationslücke

FPÖ-Chef Herbert Kickl
Parteien wie die FPÖ nutzen laut Politologin Eszter Kováts das Gefühl vieler Menschen, dass ihre Anliegen von der politischen Mitte nicht vertreten werden. Das Phänomen wird Repräsentationslücke genannt, erklärt die aus Ungarn stammende Wissenschafterin im APA-Gespräch. Statt mit Verweis auf Ungarns Premier Viktor Orbán von einer "Orbánisierung" unter einem FPÖ-Kanzler Herbert Kickl zu sprechen, wären "Melonisierung" oder "Wildersisierung" passendere Begriffe, meint sie.

Die Politikwissenschafterin an der Universität Wien beklagt eine nach wie vor wenig vorhandene Reflexion in der Öffentlichkeit über die Motive der Wählerinnen und Wähler der FPÖ. Sie verweist auf eine Analyse der US-Politologin Sheri Berman, dass Migration zum zentralen Thema der europäischen Rechtspopulisten werden konnte, "weil die Menschen sich bei den Mainstream-Parteien nicht aufgehoben" gefühlt hätten. Vor allem die Linken hätten den Themenkomplex lange als Scheindebatte angesehen oder als rassistisch abgestempelt. Ähnliche Entwicklungen habe es laut Kováts auch bei den Corona-Maßnahmen gegeben: "Wenn in Mainstream-Parteien und Mainstream-Diskursen bestimmte Standpunkte nicht legitim sind, zum Beispiel Kritik an den Lockdown-Maßnahmen oder an der Impfpflicht, ist das ein fertiler Boden für Anti-Establishment-Kräfte."

Die aktuellen Warnungen in Österreich vor der "Orbánisierung" sieht sie daher eher als Selbstvergewisserung progressiver Eliten an, die "die Gefahr damit abwenden wollen, dass sie die Gefahr benennen, aber nicht nach Hintergründen suchen. Kickl kommt nicht aus dem Nichts".

In der Art, wie Orbán von FPÖ-Kritikern im Zusammenhang mit Warnungen vor einem Kanzler Kickl erwähnt wird, ortet die ungarische Wissenschafterin zudem einen gewissen westeuropäischen Hochmut: "Da habe ich das Gefühl, das ist wie der Begriff der Balkanisierung: 'Wir werden hinunterrutschen zu den unzivilisierten Völkern'." Kickl habe hingegen "keine Abscheu, von den Osteuropäern zu lernen".

"Besser von Melonisierung oder Wildersisierung reden"

In Bezug auf einen möglichen Bundeskanzler Kickl wäre es eigentlich passender, statt von Orbánisierung "von Melonisierung oder Wildersisierung zu reden", verweist sie auf Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni und den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders. "Eine radikal rechte Partei kommt an die Macht, hat Koalitionszwang, hat keine verfassungsändernde Mehrheit, ist mit der Wirklichkeit - wie rechtsstaatliche Institutionen oder EU-Vorgaben - konfrontiert", zählt Kováts die Gemeinsamkeiten mit der aktuellen Situation der FPÖ auf. "Es ist vielleicht eine Entwarnung: Kickl kann nicht das alles umsetzen, was Orbán gemacht hat."

Kickls Situation bei den derzeitigen Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP sei nämlich mit jener von Ungarns Regierungschef Orbán bei dessen Wahl 2010 überhaupt nicht zu vergleichen, so die Politologin. Dieser hatte damals eine parlamentarische Zweidrittel-Mehrheit erhalten, die die Grundlage für seine bis heute andauernde Machtfülle darstellte: "Eine Zweidrittel-Mehrheit ist einzigartig; was Orbán damit in Bezug auf die Institutionen veranstalten konnte, kann man nicht einfach nachmachen."

"Kickl nicht so radikal wie Orbán jetzt"

Den Begriff der Orbánisierung in Hinblick auf das Selbstverständnis Kickls sieht Kováts allerdings sehr wohl als gerechtfertigt an, denn Ungarns Regierungschef sei tatsächlich ein Vorbild des FPÖ-Chefs. Orbáns Partei Fidesz sei allerdings seit 2010 nochmal deutlich nach rechts gerutscht: "Kickl ist bei weitem nicht so radikal wie Orbán jetzt."

Ähnlichkeiten zwischen beiden Politikern ortet Kováts insbesondere in der "Lust auf Provokation", am "Ärgern der Progressiven". In diesem Zusammenhang sieht sie auch die Verwendung des Ausdrucks "Volkskanzler" durch Kickl - dieses Wort wird von dessen Gegnern regelmäßig mit NS-Diktator Adolf Hitler in Zusammenhang gebracht. "Auch (die österreichischen Bundeskanzler) Leopold Figl (ÖVP, Anm.), Bruno Kreisky oder Alfred Gusenbauer (beide SPÖ, Anm.) haben sich Volkskanzler nennen lassen. Das drückt etwas banal Populistisches aus: 'Ich bin eins mit meinem Volk.'"

Eine weitere Ähnlichkeit sei die Verwendung der drei zentralen Themen "No migration, no gender, no war" (Keine Migration, kein Gender, kein Krieg), die Kickl nach Ansicht der Politologin von Orbán übernommen haben dürfte. Diese "Dreifaltigkeit" funktioniere "extrem gut", auch weil sie die wir/sie-Thematik der Rechtspopulisten weiter unterstreicht: "Wir sind für die Einheimischen - sie sind für die Ausländer, wir sind für Familien - sie sind für Gender, wir sind für den Frieden - sie sind für den Krieg."

Fidesz und FPÖ zur "radikalen Rechten" zu zählen

Sowohl die österreichischen Freiheitlichen als auch Orbáns Fidesz sieht Kováts, rückgreifend auf die Wortwahl des niederländischen Extremismusexperten Cas Mudde, als der "radikalen Rechten" zugehörig an; diese sei nach Mudde vom antidemokratischen Rechtsextremismus zu unterscheiden. Die radikale Rechte lehne die Demokratie nicht ab, wohl aber Elemente der liberalen Demokratie wie Gewaltenteilung oder Minderheitenschutz. Orbán habe dafür in einer Rede 2014 den Begriff der "illiberalen Demokratie" geprägt.

FPÖ und Fidesz hatten im Sommer 2024 gemeinsam eine neue Europa-Fraktion unter dem Namen "Patrioten für Europa" (PfE) mitbegründet, die die drittgrößte Fraktion im Europaparlament bildet. Fidesz hatte 2021 nach längerer Entfremdung die Europäische Volkspartei (EVP), der auch die ÖVP angehört, verlassen.

Für die Charakterisierung von Orbáns Regime selbst bevorzugt Kováts, ähnlich dem ungarischen Politologen András Körösényi, den Begriff der "plebiszitären Führerdemokratie" gegenüber Ausdrücken wie "hybrides Regime". Es handle sich nämlich um ein "Orbán-System", nicht um ein "Fidesz-System"; alles sei auf die Person des Premiers ausgerichtet. Das plebiszitäre Element zeige sich darin, dass Wahlen als Bestätigung des Regimes fungieren; Fidesz habe bereits seit 2014 kein Wahlprogramm mehr präsentiert. Für den direkten Kontakt mit den Wählerinnen und Wählern kommen regelmäßig die "nationalen Konsultationen" zum Einsatz, das sind freiwillige Befragungen mit Suggestivfragen. Gleichzeitig werde die Gewaltenteilung aufgeweicht, Positionen in den Institutionen, die die Kontrolle der Macht sichern sollten, mit Loyalisten besetzt.

Orbáns häufig zitierte repressive Medienpolitik betreffend erinnert sie daran, dass er insbesondere so vorgegangen ist, dass er kritische Medien von ihm nahestehenden Personen aufkaufen ließ. Der Staat schalte in Ungarn, wo es keine Presseförderung gibt, zudem keine Inserate in unabhängigen Medien; auch private Firmen würden diesbezüglich unter Druck gesetzt, schildert sie. Das habe aber in der ungarischen Medienwelt vieles verändert, "sie mussten kreativ werden". In den letzten Jahren seien "sehr erfolgreiche Modelle von Medienfinanzierung" aufgekommen: "Mittlerweile sind es Zehntausende Menschen, die freie Medien aus eigener Tasche finanzieren." In Österreich könnte Kickl "manches schwieriger machen, deswegen ist aber noch die Pressefreiheit nicht gestorben", zeigt sich die Politologin zuversichtlich.

Scheitern von Kurz zeigt Stärke der Institutionen

Was Kickl von Orbán politisch konkret übernehmen könnte, ist aus Sicht von Kováts vorerst noch offen. Er könnte höchstens in den von den Ressorts der FPÖ abgedeckten Bereichen seine Vorstellungen umsetzen. Kováts erinnert daran, dass es mit Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in Österreich erst vor einigen Jahren einen Politiker gab, der "viel Macht in seinen Händen konzentrieren wollte". Kurz sei jedoch "gescheitert", wurde vor Gericht gestellt - etwas, was heute in Ungarn nicht möglich wäre, was aber die Stärke der österreichischen Institutionen zeige. Gerade, wie mit Kurz umgegangen wurde, "gibt mir Gelassenheit, dass wir noch nicht die österreichische Demokratie begraben müssen".

( Das Gespräch führte Petra Edlbacher/APA. )

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