APA - Austria Presse Agentur

Provinzhauptstadt in Afghanistan droht an Taliban zu fallen

Die militant-islamistischen Taliban rücken in der afghanischen Provinzhauptstadt Lashkargah immer weiter vor. Nach heftigen Gefechten in den vergangenen Tagen kontrollierten sie nun mindestens acht der zehn Polizeibezirke der Stadt, sagten lokale Behördenvertreter und Einwohner der Deutschen Presse-Agentur am Montag. Mit Montagmorgen seien erneut heftige Kämpfe im Zentrum ausgebrochen.

Sollte die Stadt mit geschätzt 200.000 Einwohnern im Süden des Landes fallen, wäre es die erste Provinzhauptstadt seit 2016, die die Taliban erobern können. Damals konnten sie kurzzeitig Kunduz im Norden des Landes erobern. Es wäre zudem eine Niederlage für die USA, die offiziell ihren Militäreinsatz im Land Ende August beenden. Das US-Militär unterstützt die unter Druck stehenden afghanischen Streitkräfte noch mit Luftangriffen. Die Flieger dafür steigen von außerhalb Afghanistans auf, da der Abzug aus dem Land praktisch abgeschlossen ist.

Die afghanische Regierung halte in Lashkargah lediglich noch vereinzelte Einrichtungen wie den Gouverneurssitz, das Gefängnis, das Polizeihauptquartier oder eine Militärbasis, sagte der Provinzrat Abdul Achundsada. Die Zivilisten in der Stadt würden schwer unter den Kämpfen leiden und mit ihrem Hab und Gut von einem Stadtgebiet ins andere fliehen.

Lashkargah drohte in den vergangenen Jahren bereits öfter an die Taliban zu fallen. Allerdings konnten US-Luftschläge und auch Unterstützung durch US-Spezialkräfte dies verhindern. Laut afghanischem Verteidigungsministerium flogen die USA auch in der Nacht zu Montag erneut Luftangriffe gegen Taliban-Stellungen.

Seit dem Beginn des Abzugs der US- und Nato-Truppen aus Afghanistan Anfang Mai haben die Taliban mehrere Offensiven im Land begonnen. Mittlerweile beherrschen sie etwas mehr als die Hälfte der Bezirke des Landes und bedrohen mehrere Provinzhauptstädte. Zuletzt griffen sie auch die bedeutenden Städte Herat im Westen und Kandahar im Süden an. Der Friedensprozess tritt weiter auf der Stelle.

Angesichts der sich verschärfenden Sicherheitslage in Afghanistan hält Russland mit den Anrainerstaaten Tadschikistan und Usbekistan Militärmanöver in der Grenzregion ab. Am Montag begann die gemeinsame Übung russischer und usbekischer Soldaten, am Donnerstag soll ein trilaterales Manöver zusammen mit Tadschikistan folgen. Die früheren Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan grenzen im Süden an Afghanistan.

Für den Vormarsch der Taliban machte der afghanische Präsident Ashraf Ghani die "plötzliche Entscheidung" der USA verantwortlich, ihre Truppen bis Ende August aus dem Land abzuziehen. Ghani sagte vor dem Parlament in Kabul, seine Regierung habe einen Sicherheitsplan, um die Lage binnen sechs Monaten wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. "Die aktuelle Situation ist auf die plötzliche Entscheidung für den Abzug der internationalen Truppen zurückzuführen", sagte er. "Wir hatten in den vergangenen drei Monaten eine unerwartete Situation." Sollte die Verschlechterung der Sicherheitslage nicht eingedämmt werden, würden sich die Taliban nicht auf einen Frieden zu bewegen. Es sei an der Zeit, dass die Taliban und die Regierung einander akzeptierten und auf eine friedliche Lösung hinarbeiteten, sagte Ghani. Die Taliban hätten allerdings ihre Verbindungen zu Terrorgruppen nicht beendet. In Afghanistan ist unter anderem der sogenannte Islamische Staat aktiv und wird etlicher Anschläge beschuldigt.

Die Taliban wiesen Ghanis Kritik zurück. "Kriegserklärungen, Anschuldigungen und Lügen können das Überleben von Ghanis Regierung nicht verlängern", schrieb ein Taliban-Sprecher auf Twitter. "Seine Zeit ist abgelaufen, so Gott will." Die Friedensgespräche zwischen Taliban und der afghanischer Regierung hatten im vergangenen Jahr in Doha, der Hauptstadt Katars, begonnen. Sie haben aber trotz mehrerer Runden nicht zu einem greifbaren Fortschritt geführt.

Angesichts des Truppenabzugs aus Afghanistan will die Regierung von US-Präsident Joe Biden Tausende weitere Afghanen aufnehmen, die während des dortigen Militäreinsatzes für die USA oder Einrichtungen mit US-Bezug gearbeitet haben. Das US-Außenministerium teilte am Montag mit, dies solle zum Beispiel für Afghanen gelten, die für die USA tätig gewesen seien, aber nicht die Mindest-Beschäftigungsdauer erreicht hätten, um ein spezielles Einwanderungsvisum zu beantragen.

Nach der Rückkehr der letzten deutschen Soldaten aus Afghanistan sind bis Ende vergangener Woche knapp 1400 afghanische Ortskräfte der Bundeswehr und ihre Familienangehörigen nach Deutschland eingereist. Das teilte eine Sprecherin des Auswärtigen Amts am Montag in Berlin mit. Die Zahl der ausgestellten Einreisevisa für Berechtigte wurde weiterhin mit 2400 angegeben.