Radikal entmystifizierter "Jedermann" in Salzburg
Der Wettergott meinte es gut mit den Salzburger Festspielen, und so konnte die "Jedermann"-Premiere heuer wieder unter freiem Himmel stattfinden. Gott selbst hat in diesem "Jedermann" allerdings wenig zu melden: Carsen hat seine Rolle einfach gestrichen, stattdessen fasst Dominik Dos-Reis als quirliger Tod im weißen Messdiener-Outfit dessen Part einfach in der dritten Person zusammen, nachdem allerlei Kirchenvolk, das zuvor aus dem Dom auf den Vorplatz geschlendert war, den Part des Spielansagers übernommen hatte. Alles anders also in diesem Jahr: Hatte Michael Sturminger im Vorjahr in seiner Neuinszenierung mit Michael Maertens noch auf dystopisches Klimakrisenspiel gesetzt, steht diesmal eine Gesellschaft im Fokus, die nach wie vor feiert, als gäbe es kein Morgen.
Deleila Piasko gibt ihre Buhlschaft als selbstbewusstes It-Girl, Hochmair wird in einem goldenen Elektro-Cabrio auf die Bühne chauffiert (was bei der Premiere für Szenenapplaus sorgte), die rund 90 Partygäste setzen auf Breakdance, Koks und Karaoke. Hochmair - in floralem Gold-Anzug im Partnerlook mit Piasko - unterhält die Meute via Mikrofon und tanzt mit seiner Geliebten Tango auf dem Tisch. Mehr gedankenverlorene Ausgelassenheit geht da schon fast nicht mehr. Umso radikaler ist der Bruch, sobald Jedermann vom Tod (diesmal als Kellner verkleidet) heimgesucht wird. Im zweiten Teil des Abends kann Hochmair jenen Wahnsinn ausspielen, der ihm am besten liegt. Dass er den Jedermann dank seines gefeierten "Jedermann reloaded"-Programms und einem Kurzeinsatz als Ersatz von Tobias Moretti im Jahr 2018 im kleinen Finger hat, merkt man in jeder Sekunde.
Carsen setzt unterdessen auf Personen statt Personifikationen: So braucht sich Dörte Lyssewski, die zu Beginn in Bettler-Outfit und zerzausten Haaren als der arme Nachbar auftritt, für ihre Rolle der Werke gar nicht umzuziehen. Vielmehr setzt Carsen auch hier auf Vervielfachung und holt die rund 90 Statisten umfassende Party-Meute als Bettler/Werke-Volk auf die Bühne. Dabei kommt es auch zu einer der überraschendsten Szenen des Abends: Nachdem Regine Zimmermann als Glaube ihren Auftritt als Putzfrau hatte, drückt sie Jedermann ihren nassen Putzlappen kurzerhand in die Hand, worauf dieser den versammelten Werken die Füße wäscht. Jesus lässt grüßen.
Dass der Teufel in jedem von uns steckt, macht Christoph Luser deutlich, der sich vom Guten Gesell in den Mephisto verwandelt und dafür nicht nur rot leuchtende Kontaktlinsen verpasst bekommt, sondern sich auch die Kleider des Gesellen vom (gestählten) Leib reißen darf. In Erinnerung bleiben wird auch Kristof Van Bovens Auftritt als Mammon, der als modetechnisches Spiegelbild aus dem Kofferraum des goldenen Cabrios springt und nicht nur mit Jedermanns Geldkoffern, sondern auch mit dessen Kunstsammlung - von der "Goldenen Adele" bis zu Munchs "Schrei" - das Weite sucht.
Am Ende des fast zweistündigen Abends brauchte das Publikum ein wenig Zeit, doch der anfangs freundliche Applaus verwandelte sich in Standing Ovations, als Hochmair mit seinem Gefolge an die Rampe trat. An diesen neuen "Jedermann" wird man sich noch gewöhnen müssen. Bleibt zu hoffen, dass ihm nicht das kurzlebige Schicksal der - ebenfalls mutigen - Vorjahresproduktion blüht.
(Von Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - "Jedermann" von Hugo von Hofmannsthal, Regie: Robert Carsen, Bühne: Robert Carsen, Luis F. Carvalho, Kostüme: Luis F. Carvalho, Musik: Ensemble 013. Mit u.a. Philipp Hochmair als Jedermann, Deleila Piasko als Buhlschaft, Dominik Dos-Reis als Tod, Andrea Jonasson als Jedermanns Mutter, Christoph Luser als Jedermanns guter Gesell / Teufel, Dörte Lyssewski als Armer Nachbar / Werke, Arthur Klemt als Schuldknecht, Nicole Beutler als Des Schuldknechts Weib, Lukas Vogelsang als Dicker Vetter, Daniel Lommatzsch als Dünner Vetter, Kristof Van Boven als Mammon und Regine Zimmermann als Glaube. Salzburger Festspiele. Am Domplatz bzw. bei Schlechtwetter im Großen Festspielhaus. Vorstellungen bis 28. August. Karten: 0662/8045-500. www.salzburgerfestspiele.at)
Kommentare