Russland könnte 200.000 neue Soldaten an die Front bringen
Derzeit sind die russischen Streitkräfte nicht im größeren Maße offensivfähig. Das Schwergewicht liegt auch ganz eindeutig auf der Stabilisierung der Front. Hierzu wurden auch bereits etwa 100.000 der 300.000 seit September rekrutierten Soldaten eingesetzt. Mit ihnen sei es immerhin gelungen, den Frontverlauf weitgehend zu stabilisieren, "auch wenn ihr Kampfwert nicht sonderlich hoch eingeschätzt wird, weil sie von der Rekrutierung recht unmittelbar in den Kampf geschickt wurden", so Sandtner.
Abhängig von den Witterungsbedingungen könnte es aber Anfang des kommenden Jahres zu neuen russischen Offensiven kommen. Dazu werden derzeit in Russland die übrigen 200.000 im Rahmen der Teilmobilmachung einberufenen Soldaten formiert, ausgebildet und ausgerüstet. Obwohl die Teilmobilmachung offiziell abgeschlossen ist, sei davon auszugehen, dass sie im Stillen fortgesetzt wird und die Zahl durchaus auf eine halbe Million Soldaten steigen wird.
Ende November, Anfang Dezember dürfte die Ausbildung der 200.000 Männer abgeschlossen sein. Die Russen könnten dann im Jänner, wenn die Böden wieder gefroren sind und man sich besser im Gelände bewegen kann, eine Offensive starten. "Derzeit ist die schlechteste Jahreszeit. Es regnet, es ist nass und matschig."
Sollten 200.000 neue russische Soldaten in den Kampf geschickt werden, wären die Russen etwa gleich stark wie die Ukrainer. "Diese haben nach mehreren Mobilmachungen etwa 400.000 bis 500.000 Soldaten im Stand." Für Sandtner ist es durchaus vorstellbar, dass die Russen versuchen "in einem gewissen Bereich die Initiative zu ergreifen". Etwa im Donbass, denn die Vorgabe war von Beginn an, den Donbass "zu befreien". Und während die Region Luhansk Ende Juli vollständig eingenommen wurde, "beißen sich die Russen in Donezk die Zähne aus".
Die Ukrainer wiederum könnten versuchen, Kräfte im Süden umzugruppieren und aus Richtung Saporischschja die Landbrücke zwischen dem Donbass und der von Russland 2014 annektierten Halbinsel Krim zu durchbrechen. "Das wäre der Zusammenbruch der russischen Front in diesem Bereich und würde auch zu einer Isolierung der Krim auf dem Landweg führen. Der einzige verbleibende Zugang wäre dann nur noch die Brücke in der Straße von Kertsch, die bereits am 7. Oktober schwer beschädigt wurde". Derzeit beobachte man aber auch, dass ukrainische Spezialeinsatzkräfte im Raum Cherson immer wieder den Fluss Dnjepr queren.
Hinsichtlich möglicher Verhandlungen ist laut Sandtner neben entsprechenden Ankündigungen die Beobachtung interessant, dass die Russen seit dem 15. November wieder massiv die ukrainische Infrastruktur beschießen. Diese Bombardements hatten am 10. Oktober begonnen. Zwischen dem 3. und 14. November allerdings hatte Russland seine strategischen Bombardements weitgehend eingestellt. In dieser Zeit fand auch der Rückzug der Russen aus dem nördlichen Teil Chersons statt. Die Tatsache, dass die russischen Truppen dabei von den Ukrainern kaum bekämpft wurden, könnte entweder als Meisterleistung der Verschleierung dieses Abzuges durch die russischen Kräfte gedeutet oder auch als Indiz dafür gewertet werden, dass möglicherweise im Hintergrund Gespräche zwischen den USA und Russland stattfanden.
Dass am 15. November die strategischen Bombardements wieder begonnen haben, sei darauf zurückzuführen, dass Russland mit den strategischen Entwicklungen, vor allem hinsichtlich der Verhandlungsbereitschaft der Ukraine und der Verurteilung des Krieges beim G20-Gipfel unzufrieden sei. Hinzukomme die Rhetorik des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der für Verhandlungen erneut seine Maximalforderungen bekräftigt habe, an erster Stelle einen kompletten Rückzug der russischen Armee aus der Ukraine. "Ein derart umfassender Schlag mit an die hundert Marschflugkörpern wie er am 15. November stattgefunden hat, bedarf einer gründlichen Planung und Vorbereitung", erklärt Sandtner. Es sei daher mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Termin sehr bewusst gewählt wurde, da bekannt war, dass Präsident Selenskyj an diesem Tag eine Videobotschaft am G20-Gipfel halten würde.
Ein baldiges Ende des Krieges sei damit nicht in Sicht, auch wenn dieser für beide Seiten rein militärisch aus heutiger Sicht nicht zu gewinnen sei, so Sandtner.
Der bald zehn Monate andauernde Krieg hat nach Einschätzung der Experten sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite jeweils 100.000 gefallene und verwundete Soldaten und bis zu 40.000 tote ukrainische Zivilisten gefordert. In Summe seien bis heute weit über 100.000 Menschen gestorben. Und es sterben täglich weitere.
Das Leben in der Ukraine sei ein Leben unter ständiger Bedrohung aus der Luft. Es gebe nicht nur Schwierigkeiten mit der Stromversorgung, sondern auch Wasserprobleme, weil die Wasserversorgung von elektrischen Pumpen abhängig sei. In großen Teilen des Landes komme es immer wieder zu flächendeckenden Stromausfällen, die teilweise Tage dauern. "Irgendwann wird man an einem Punkt kommen, wo die Schäden an der Infrastruktur so intensiv und tiefgreifend sind, dass sie irreparabel sind. Das wird zu massiven Problemen mit der Energieversorgung führen", so Sandtner.
Dass die Ukraine nicht im Stande ist, den russischen Beschuss gänzlich zu unterbinden, hat laut dem Militärexperten mehrere Gründe: "Die Ukraine ist ein sehr großes Land, es ist nahezu unmöglich, dieses flächendeckend zu schützen." Zudem seien die dazu nötigen Waffen sehr teuer. Während die iranischen Drohen, mit denen Russland derzeit agiert für 20.000 Euro zu haben sind, koste eine Iris-T-Flugabwehrrakete etwa 400.000 Euro.
Videoaufnahmen aus der Ukraine zeigen aber, dass die Fähigkeit der ukrainischen Luftabwehr russische Marschflugkörper und Drohnen abzuschießen ständig zunimmt und es inzwischen gelingt bis zu zwei Drittel der Flugkörper abzufangen. Demgegenüber steht die stetig zunehmende Kooperation der Russen mit dem Iran, von wo aus nicht nur Drohnen geliefert werden, sondern davon auszugehen ist, dass in nächster Zeit auch sehr präzise weitreichende Marschflugkörper iranischer Bauart ihren Weg in das russische Inventar finden.
(Das Interview führte Petja Mladenova/APA)
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