Salzburger Festspiele mit Festakt offiziell eröffnet
Die in Russland geborene und in New York lebende Chruschtschowa ist Expertin der zeitgenössischen russischen Geschichte und Politik. Die Professorin für Internationale Beziehungen und Komparatistik betitelte ihre Rede "Der Idealismus der Kunst in Zeiten von Krieg und Frieden". Darin erläuterte sie, welche Bedeutung die Kunst im Leben der Menschen habe, und dass Kunst Politik und Kultur beeinflusse. Nationen würden ihre kulturelle Individualität ebenso wertschätzen wie ihr Territorium, ihre Bodenschätze und ihre Finanzinstitute. Im Kriegszustand könne aber Kunst zu einem Schlachtfeld werden, in Krisenzeiten steige jedoch zugleich die Kraft der Kunst sprunghaft an.
Vergangenes Jahr habe der ukrainische Gesetzgeber das nach dem russischen Dichter des 19. Jahrhunderts Alexander Puschkin benannte "Anti-Puschkin-Gesetz" verabschiedet, das die Vernichtung von Kulturgütern mit Bezug zur russischen und sowjetischen Geschichte in der Ukraine ermöglichte, erläuterte Chruschtschowa. Zahlreiche als Symbole zaristischer und totalitärer Ideologie angesehene Werke, unter anderem Gemälde, Skulpturen und Bücher russischer Künstlerinnen und Künstler, seien verboten oder zerstört worden. "Die kulturellen Zeugnisse einer anderen Nation oder ethnischen Gruppe pauschal zu vernichten, ist aus meiner Sicht keine gangbare Politik. Aber unter den gegenwärtigen Umständen sollte es kein Russe wagen, den Ukrainern vorzuschreiben, wie sie ihre Vergangenheit zu bewältigen oder ihre Zukunft zu gestalten haben."
Sie sei nicht die Einzige, die ein derartiges Vorgehen infrage stelle, sagte die Politikwissenschafterin. George F. Kennan, einer der bedeutendsten amerikanischen Diplomaten, habe in einer Rede im New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 1955, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, erklärt: "Nur durch das Erschaffen von Schönem und durch die großen, bedeutenden Schöpfungen des Geistes ist es den Menschen gelungen, eine verlässliche Brücke zwischen den Nationen zu schlagen, selbst in den finstersten Augenblicken politischer Verbitterung, des Chauvinismus und der Überheblichkeit."
Chruschtschowa kritisierte in ihrer Rede Wladimir Putins Politik und entschuldigte sich bei der ukrainischen Bevölkerung für den Krieg, der gegen ihr Land geführt wird. Sie nahm auch Bezug auf den Roman "Der Tag des Opritschniks", den der russische Autor Wladimir Sorokin im Jahr 2006 geschrieben hat. "In diesem Buch ist das russische Zarenreich wiederauferstanden, und die Gefolgsleute der Regierung haben das Sagen. Damals haben wir es als bloße Fiktion abgetan. Heute liest es sich wie die Realität. Nach der kürzlich erfolgten Vereidigung Wladimir Putins als Präsident für seine fünfte Amtszeit, wird unabhängiges Denken brutal bestraft. Dies ist keine dystopische Absurdität mehr, wie Sorokin sie beschrieb, sondern im heutigen Russland Alltag. Als ich in der Sowjetunion lebte, haben wir George Orwells Dystopien als Fiktion gelesen. Doch heute ist Orwell eine Anleitung zum Überleben geworden."
Die Weigerung (Europas, Anm.) sich mit der russischen Kultur zu befassen, werde Putin nicht dazu zwingen, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen, "aber sie kappt eine potenzielle Informationsquelle über seine Ziele und Motive", sagte Chruschtschowa. Sie verwies auch auf den Kalten Krieg. "Die Menschen in Russland, dem Zentrum des kommunistischen Reiches hinter dem Eisernen Vorhang, betrachteten Kultur anders als die Menschen im Westen. "Kultur war unsere Freiheit. Sie war eine Flucht - eine geistige, wenngleich nicht physische Freiheit, die uns das sowjetische System verwehrte. Kunst nicht zu schätzen, war ein Luxus, den wir uns nicht leisten konnten."
Heute wiederhole sich die Geschichte im Osten Europas. Eine der ausverkauften Veranstaltungen der diesjährigen Salzburger Festspiele sei eine Lesung von Alexej Nawalnys Briefen aus dem Gefängnis. Nawalny ähnle den politischen Gefangenen der Generationen vor ihm. "Er steht stellvertretend für das menschliche Dasein in Zeiten der Unterdrückung und Krise." Leid und Schmerz seien in Russland allgegenwärtig und existenziell - "was schlecht für das Leben ist, aber gut, um Meisterwerke zu schaffen", meinte Chruschtschowa. "Angesichts der aktuellen Praxis, Kunstwerke nur deshalb abzulehnen, weil sie von Russen geschaffen wurden, ist es mutig, dass die Salzburger Festspiele nicht nur eine, sondern gleich zwei Dostojewski-Opern im Programm haben, deren Protagonisten geschundene Menschen sind: 'Der Idiot' und 'Der Spieler'." Das diesjährige Opernprogramm stelle eine Zeile aus "Der Idiot" besonders heraus: "Mitleid ist das einzige Daseinsgesetz der Menschheit." Im selben Roman Dostojewskis finde sich der ebenso treffende wie idealistische Satz: "Die Welt wird durch Schönheit gerettet werden", zitierte die Festrednerin und zeichnete ein optimistisches Bild. "Kunst rettet die Welt jeden Tag, in jedem Jahrhundert und in jeder Generation. Kunst ist das, was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr da sind." Kunst könne Tyrannei und Krieg nicht verhindern, entlarve sie aber immer wieder aufs Neue.
"Selbst wenn die meisten Menschen in Russland glauben, nichts gegen den Despotismus ausrichten zu können, ist die russische Kunst niemals neutral", so Chruschtschowa. "Sie kämpft, und zwar immer - für eine bessere Gesellschaft, eine bessere Menschheit und mehr Schönheit. Hätten die Machthaber im Kreml die Lektionen gelernt, die die Kunst ihnen über vergangene tyrannische Regime offenbart hat, hätte es in Russland nicht so viele Diktaturen gegeben." Aber Herrscher seien schlechte Schüler. "Sie wissen Kultur nicht zu schätzen - sonst hätten Stalin und Putin keine Meisterwerke vernichtet und nicht Künstlerinnen und Künstler inhaftiert. Ich habe davon gesprochen, dass die Ukraine die russische Kunst ablehnt, aber der Kreml befindet sich in einem noch unerbittlicheren Krieg mit den Kulturschaffenden des Landes, weil sie die kriegerische Politik Putins nicht unterstützen. Despoten lieben nur kulturka, eine Schrumpfform von Kultur, die ihre eigene Größe widerspiegelt. Die beste russische Kunst ist die Antithese zu kulturka. Sie ist mit universellen Erfahrungen von Ungerechtigkeit verbunden und beweist, dass Unterdrückung und Konfrontation ausnahmslos scheitern."
Zu Beginn des Festaktes hatte Festspielpräsidentin Kristina Hammer das Publikum begrüßt. "Bewegungen zwischen Himmel und Hölle zeichnen die Werke unseres diesjährigen Festspielsommers nach. Treffender lässt sich der Zustand unserer Welt nicht beschreiben", sagte Hammer. "Wir müssen uns heute mehr denn je bewusst machen, dass Friede, Freiheit und Demokratie keineswegs selbstverständlich sind", gab sie zu bedenken. Die Wirkmacht der Kunst liege im Hinterfragen, dem einander Zuhören, im einander Verstehen. "Das ist der Gründungsauftrag, das ist die DNA unserer Salzburger Festspiele." Diese würden, gerade in einer Welt, die von Konflikten und Krisen geprägt ist, eine dringend benötigte Oase der Menschlichkeit bieten, des Verständnisses und der kulturellen Verbundenheit. Nur wenn es gelinge, die Macht der Sprache nicht allein den Demagogen zu überlassen und Respekt und Besonnenheit gegen die Empörungsgesellschaft zu etablieren, könnten Kunst und Kultur auch weiterhin das Fundament und Bindemittel unserer Gesellschaften bleiben, und ihre Unabhängigkeit bewahren.
Im Gegensatz zu seiner Eröffnungsrede bei den Bregenzer Festspielen, in der Van der Bellen hervorkehrte, was im öffentlichen Diskurs aus seiner Sicht falsch laufe, legte der Bundespräsident in seiner Eröffnungsrede in Salzburg Lösungsvorschläge für eine positive Zukunft dar, auch vor dem Hintergrund der Nationalratswahl im Herbst. Er ermutigte alle Menschen in Österreich, wichtige Entscheidungen für die Zukunft "nicht voll Angst, sondern voll Zuversicht" zu treffen.
Mit Österreich verbinde man ein malerisches Dorf in den Alpen, Apfelstrudel und Gemütlichkeit, "aber da ist noch mehr, da wäre zum Beispiel die Neugier". Nicht umsonst gebe es so viele österreichische Nobelpreisträger und Nobelpreisträgerinnen, sagte der Bundespräsident. Die Österreicherinnen und Österreicher zeichne auch ein gewisser Pragmatismus aus, das sei nicht nur ein Durchwurschteln. "Man kann das jetzt belächeln, aber es bedeutet auch, dass wir nicht trotzig beharren, sondern flexibel sind, wenn etwas Neues um die Ecke kommt. Ja, wir finden das Schöne sogar im vermeintlich Schiachen. Darum sind wir auf unseren Grant mindestens genauso stolz wie auf unsere Gastfreundschaft."
Der Bundespräsident lobte in diesem Zusammenhang auch die Hilfsbereitschaft der Menschen, zum Beispiel bei Naturkatastrophen. "Wenn ich heute von all unseren österreichischen Eigenschaften spreche, hat das einen Grund: Wir stehen vor vielen großen Entscheidungen." Da meine er nicht nur die Nationalratswahl im September, sondern auch Klima, Energie, Migration, Sicherheit, Friede und Freiheit in einer liberalen Demokratie. Die Bevölkerung brauche auch keine Angst haben vor großen Reformen oder großen Ideen, oder Teil von etwas Größerem zu sein. In Zeiten wie diesen sei das Vereinte Europa überlebenswichtig, insbesondere für kleine Staaten. Abschließend sagte er, "wir sind Österreich" und zitierte Franz Grillparzer: "Es ist ein gutes Land".
Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) strich in seinen Grußworten unter dem Titel "Engel und Dämonen" einerseits heraus, was das Böse in den Menschen hervorgebracht habe, wie den Holocaust und all die Kriege, andererseits schöpfte er Hoffnung, wenn er als "Engel" all jene bezeichnete, die Mitgefühl und Hilfsbereitschaft auszeichne. Er bezeichnete sie als "Engel des Alltags unter uns", die wenig beachtet und für selbstverständlich genommen werden. "Sie stehen für jene Engel in uns, die unsere Dämonen in Schach halten. Die Salzburger Festspiele bringen das Ringen zwischen Engeln und Dämonen in uns auf die Bühne. Vielleicht machen uns die Salzburger Festspiele bewusst, dass wir auch öfter die Wahl haben als wir glauben."
Vizekanzler und Kulturminister Werner Kogler (Grüne) ging in seinen Grußworten ebenfalls auf die Ambivalenz des menschlichen Daseins ein. "Unter den vielen Erscheinungen zwischen Himmel und Hölle gehört der Krieg zu denjenigen, die aus der Hölle kommen." Die junge Demokratie Ukraine kämpfe für Freiheit und Sicherheit, "was uns in Europa auszeichnet. Und immer gilt noch: Wenn Putin aufhört, ist dieser Krieg beendet. Wenn die Ukraine aufhört, ist sie in Gefahr, ausgelöscht zu werden". Die globalen und geopolitischen Entwicklungen, die Klimakrise, Desinformationskampagnen, destruktiven Extremisten und Rechtsextremisten, die zerstörerische Interessen verfolgten, würden viele Menschen verunsichern. Es brauche die Allianz konstruktiver Kräfte, und die Fähigkeit zur positiven Veränderung. Die Kunst habe in der Geschichte schon öfter bei gesellschaftlichen Transformationen eine wichtige Rolle gespielt. Dazu brauche es eine Politik, die der Kunst ihre Möglichkeiten und Freiheit sichere. In letzter Zeit habe es vermehrt inakzeptable Attacken auf Kulturschaffende gegeben, wie rund um die derzeitige Europäische Kulturhauptstadt Bad Ischl im Salzkammergut.
Rund eine halbe Stunde vor Beginn des Festaktes hatten Landeshauptmann Haslauer und Bundespräsident Van der Bellen am Mozartplatz den Tschechischen Präsidenten Petr Pavel mit militärischen Ehren empfangen. Viel Prominenz aus Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik nahmen an dem Festakt teil, darunter fast die gesamte Bundesregierung, sowie "Jedermann"-Darsteller Philipp Hochmair und "Buhlschaft" Deleila Piasko. Musikalisch umrahmt wurde der Festakt mit Werken von Sergej Prokofjew, Max Bruch und Alfred Schnittke. Unter der Leitung von Elim Chan spielten Nicolas Altstaedt (Violoncello) und das Mozarteumorchester Salzburg. Der Festakt, der ohne Störaktionen verlaufen ist, wurde live von ORF2 und 3SAT übertragen.
Am Abend des offiziellen Eröffnungstags findet im Großen Festspielhaus die konzertante Premiere von Richard Strauss' Oper "Capriccio" statt. Mit Mozarts "Don Giovanni" geht am Sonntag die erste szenische Oper über die Bühne. Die Salzburger Festspiele bieten von 19. Juli bis 31. August 172 Aufführungen an 15 Spielstätten sowie 33 Vorstellungen im Jugendprogramm "jung & jede*r".
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