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"Seele des Tangos": Bandoneon-Erfinder stammt aus Krefeld

Vorneweg der Sarg des Bergmanns, dahinter der Pastor, und dann ein Kumpel mit umgeschnalltem Bandoneon und trauriger Musik: So beschreibt der Essener Hobby-Musiker Franz-Josef Senicar Beerdigungen im Ruhrgebiet der Nachkriegszeit. Der 74-Jährige spielt mit nur noch wenigen Musikern in einem der letzten deutschen Bandoneon-Orchester. Dagegen gibt es in Argentinien immer noch rund 20.000 der Instrumente, die einem kleinen Akkordeon mit Knöpfen statt Tasten ähneln.

Mit seinem weichen, klagenden Ton gilt das Bandoneon als "Seele des Tangos" - und stammt doch aus Nordrhein-Westfalen: Der Krefelder Musiker und Instrumentenhändler Heinrich Band (1821-1860) hatte das Instrument aus einer in Sachsen erfundenen Konzertina weiterentwickelt und mit seinem Namen versehen. In diesem Frühjahr feiert Krefeld den 200. Geburtstag Bands - leider wegen Corona nicht mit einem ursprünglich für Ende April geplanten Konzert und vielen Gästen aus Südamerika, wie Stadtsprecher Dirk Senger sagt.

"Bergmannsklavier" oder "Klavier des kleines Mannes" wurde das Bandoneon genannt. Nicht nur, weil es nur wenige Kilogramm schwer ist und an einem Riemen um den Hals getragen werden kann - sondern auch, weil man das Spielen darauf mit einigem Fleiß ohne teuren Musikunterricht und Notenkenntnis lernen kann. An den Knöpfen des Instruments für die einzelnen Töne stehen Zahlen, ebenso auf der Partitur der Musiker. "Noten kann ich nicht", sagt die 82-jährige Helga Tosta aus dem Essener Orchester. "Aber spielen schon - mein Vater hat es mir vor 70 Jahren beigebracht."

In der Hochzeit während der 1930er-Jahre gab es in Deutschland 15.000 Bandoneon-Spieler, die in 70 Vereinen organisiert waren, und zwei monatlich erscheinende Fachzeitschriften. Vor allem in den Bergarbeiter-Vierteln gehörten Bandoneon-Vereine zum Alltag, berichtet Tosta - bis in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Musiker starben und der Nachwuchs wegblieb. "Heute lernen alle lieber Gitarre", sagt Senicar.

Das sieht in Argentinien - dem Land des Tangos - ganz anders aus: "Das Bandoneón ist eine Ikone unseres Landes und unserer Musik", sagt dort der Instrumentenbauer Oscar Fischer vom Casa de Bandoneón aus Buenos Aires. Der klagende Klang des Instruments passt gut zum melancholischen Charakter des Tango. In Argentinien sagt man: "Das Bandoneón klingt nicht, es weint." Seit 2005 feiert das südamerikanische Land immer am 11. Juli sogar den Nationalen Tag des Bandoneóns.

Vermutlich kamen die ersten Bandoneons zwischen 1870 und 1880 an den Rio de la Plata. Wer tatsächlich das erste Instrument nach Argentinien brachte, ist unklar. Einige Historiker gehen davon aus, dass es der englische Seemann Thomas Moore war - andere vermuten, dass ein deutscher Viehzüchter das erste Bandoneon importierte. Es gibt auch die Version, dass ein Sohn des Erfinders Heinrich Band nach Argentinien reiste, ein von seinem Vater gefertigtes Instrument mitbrachte und einem Argentinier namens José Santa Cruz erste Unterrichtsstunden erteilte.

In Deutschland spielten nicht nur Arbeiter auf den Badoneons traditionelle Volkslieder, in armen Kirchengemeinden diente das Instrument auch als günstiger Orgelersatz. Wirklich große Bedeutung erlangte der kleine Bruder des Akkordeons in seiner Heimat allerdings nie - erst in der Neuen Welt konnte sich das Instrument voll entfalten. "Argentinien hat dem Bandoneón seine Identität gegeben", sagt Instrumentenbauer Fischer.

Heute gibt es weltweit nur noch etwa ein halbes Dutzend Fabrikanten - in Deutschland, Argentinien, Belgien und Italien. Instrumentenbauer Fischer fertigt in seiner Werkstatt in aufwendiger Handarbeit pro Jahr rund 25 Bandoneons - fast alle gehen ins Ausland. In Europa kosten neue Bandoneons zwischen 7000 und 9000 Euro, in Argentinien sind sie etwas günstiger zu haben.

Der Zauber des traurigen rhythmischen Tons zieht die Menschen dabei bis heute in seinen Bann. Als die "Bandonion Freunde Essen" vor der Corona-Pandemie auf einem Marktplatz in Gelsenkirchen auftraten und einen Tango anstimmten, war das Publikum wie elektrisiert. "Plötzlich bewegten sich die Leute und fingen an zu tanzen, auch Unbekannte haben plötzlich miteinander getanzt", erzählt Orchestersprecher Senicar.