APA - Austria Presse Agentur

Symbolbehaftete Märchen: Mircea Cartarescus "Melancolia"

In eine dunkle, mystische, beunruhigende Welt entführt Mircea Cartarescu (66) mit seinem heute auf Deutsch erscheinenden neuen Erzählband "Melancolia". Es sind Märchen der Kindheit und der Adoleszenz, voller Einsamkeit und Ungewissheit, voller Sehnsucht und Angst. Traum und Wirklichkeit vermischen sich. Die Erwachsenen, wenn sie überhaupt auftauchen, erscheinen als durchscheinende, ungreifbare Gespenster. Seinen Weg muss das Kind, das stets im Zentrum steht, alleine finden.

Längst gilt Cartarescu, 2015 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet, als der wichtigste rumänische Schriftsteller der Gegenwart und als ernsthafter Nobelpreiskandidat. In seiner "Orbitor"-Trilogie setzte er einerseits seiner Heimatstadt Bukarest ein literarisches Denkmal und bannte andererseits die Gespenster seines eigenen Aufwachsens. Sein eineiiger Zwillingsbruder Victor, dessen inneren Organe seitenverkehrt angeordnet waren, starb im Kleinkindalter. Er war wie Mirceas "Spiegelbild".

Allen Motiven aus Cartarescus persönlicher Mythologie begegnet man nun verdichtet in den fünf symbolbeladenen Geschichten dieses 2019 im Original erschienenen und erneut von Ernest Wichner ins Deutsche übertragenen Bandes. Die Suche nach dem Kern der eigenen Identität, die Verlorenheit im Leben, das Spiegelbild als unüberwindliches Zurückgeworfensein in die eigenen Grenzen, das Rätsel der Sexualität und der Geschlechterzugehörigkeit, die in einer erschreckenden Erzählung über menschliche Häutungen in faszinierende Bilder gefasst wird: "Melancolia" wirkt wie zur Dichtung gewordene Psychoanalyse und ist praller Stoff für entwicklungspsychologische Seminare.

Wenn Cartarescu seine Grundmotive aus eigenem Erleben schöpft, und vieles deutet darauf hin, muss es eine einsame, schwierige, angstbehaftete Kindheit gewesen sein, in der sich der Bub früh in die Lektüre zurückgezogen hat. In "Die Stege" wartet ein Fünfjähriger in einer Hochhaus-Wohnung am Rande der Stadt gefühlte Jahre darauf, dass die Mutter vom Einkaufen zurückkommt und verlässt die eigenen vier Wände unterdessen drei Mal über regenbogenartige Stege, die sich in seiner Fantasie über die Stadt spannen, für bizarre Abenteuer. Auch in "Die Füchse" sind die Eltern kaum präsent, während der achtjährige Marcel sich um seine dreijährige kleine Schwester kümmert und sie in albtraumartigen Kämpfen gegen die sich in bissigen Füchsen materialisierenden gesammelten Gefahren der Welt verteidigen muss.

"Die Häute" ist die längste und stärksten Geschichte des Bandes und erzählt davon, dass sich Männer regelmäßig häuten und wie Schlangen, aber auch wie Insekten ihre alten Häute bzw. Panzer abwerfen, um für den nächsten Lebensabschnitt gewappnet zu sein. Ob dieser biologische Erneuerungsvorgang auch Frauen betrifft, ist ein Geheimnis, dem der 15-jährige Ivan auf die Spur zu kommen hofft, als er auf die nur wenig jüngere Dora trifft und sich in sie verliebt. So, wie Ivan sich immer wieder fragt, wie es wäre, im Körper eines Mädchens zu leben, möchte Dora ganz real ausprobieren, wie es ist, in die Haut eines Burschen zu schlüpfen, und bittet ihren Freund um dessen letzte abgeworfene Haut, die bei ihm im Kleiderkasten hängt. Am Ende beobachtet Ivan die Metamorphose des Mädchens zur Frau - einem wunderschönen Schmetterling gleich. Dass diesem früher oder später die Flügel gestutzt werden dürften, ist eine andere Geschichte.

(S E R V I C E - Mircea Cartarescu: "Melancolia", aus dem Rumänischen von Ernest Wichner, Zsolnay Verlag, 272 Seiten, 25,70 Euro, Buchpräsentation am 24.11., Alte Schmiede, Wien)