APA - Austria Presse Agentur

Timothy Snyder hält am 9. Mai "Rede an Europa" am Judenplatz

Das Gedenken an den Holocaust hat in Österreich viele Gesichter und Formen. Mit einer öffentlichen Vorlesung des US-Historikers Timothy Snyder am 9. Mai am Wiener Judenplatz will die Erste Stiftung nun einen "Gegensatz zur verordneten Erinnerungskultur" schaffen und eine "Erinnerung von unten" anstoßen. Der Auftaktrede soll alljährlich am Europatag eine weitere "Rede an Europa" folgen.

Snyder, Professor für Geschichte an der Universität Yale und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, hat 2015 mit "Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann" ein viel diskutiertes Buch zum Thema vorgelegt und beschäftigt sich vor allem mit der jüngeren mittel- und osteuropäischen Geschichte. "Er ist nicht nur einer, der die Freiheit der Wissenschaft hochhält und dies auf höchstmöglichem internationalen Niveau, sondern der sich kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es darum geht, Lehren aus der Geschichte zu ziehen und ihnen Strahlkraft zu verleihen", sagte Boris Marte, stellvertretender Vorsitzender der Erste Stiftung, die die Veranstaltung gemeinsam mit den Wiener Festwochen und dem IWM initiiert hat, zur APA.

Wie der Redner und der Zeitpunkt für die öffentliche Vorlesung am Abend des Europatags der Europäischen Union, ist auch der Ort nicht zufällig gewählt. Der 1437 als solcher benannte Judenplatz in der Wiener Inneren Stadt war im Mittelalter das Zentrum der jüdischen Gemeinde Wiens. Dort befand sich die unter anderem aus Privat- und Gemeindehäusern, einem Spital und einer Synagoge bestehende "Wiener Judenstadt", bis diese 1421 auf Betreiben von Herzog Albrecht V. von Österreich in einem blutigen Pogrom ("Wiener Gesera") unterging.

Die Verfolgungen und Vertreibungen, die schon 1420 ihren Anfang genommen hatten, führten schließlich zur weitgehenden Vernichtung des jüdischen Lebens im Herzogtum Österreich. Nach einer wechselhaften Geschichte wuchs die jüdische Gemeinde in späteren Jahrhunderten langsam wieder, bis Wien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem der großen Zentren jüdischer Kultur in Europa wurde. Dem machte der Nationalsozialismus mit der beinahe vollständigen Vertreibung oder Ermordung der 65.000 Wiener Juden in der "Schoah" ein brutales Ende.

Im Gedenken an dieses beispiellose Verbrechen beschloss die Stadt Wien Mitte der 1990er-Jahre die Errichtung eines "Mahnmals für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah" am Judenplatz, der dafür komplett neu gestaltet und zur Fußgängerzone umgewandelt wurde. Im Zuge der Grabungsarbeiten wurden 1995 die Überreste der mittelalterlichen Synagoge freigelegt. Teile des Fundaments sind heute im Museum Judenplatz zu besichtigen, das im Jahr 2000 als zweiter Standort des Jüdischen Museums Wien installiert wurde. Zeitgleich wurde der heute wohlbekannte Stahlbetonkubus der britischen Künstlerin Rachel Whiteread auf dem Platz über der ehemaligen Synagoge eröffnet. Die steinernen Bücher am Mahnmal sollen die bis heute oftmals namenlos gebliebenen Opfer symbolisieren.

Dem von Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) und Kulturstadtrat Peter Marboe (ÖVP) initiierten Vorhaben wehte damals "massiver Gegenwind" entgegen, erinnert sich Marte, der als Kabinettschef von Marboe maßgeblich am Mahnmal-Projekt beteiligt war, an eine turbulente Konzeptions- und Planungszeit. Interessen und Einwände von Anwohnern, Feuerwehr, dem ortsansässigen Verwaltungsgerichtshof bis hin zu Fiakern wollten gehört und ausbalanciert werden. Am Ende hätten sich die dabei wohlverdienten "ersten grauen Haare" gelohnt, so Marte. Die Ausgangslage, an die Schoah zu erinnern und ein weithin sichtbares Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus zu setzen, sei aktueller denn je.

"Dieser Aktualität verleihen wir jetzt jedes Jahr eine Sprache. Das Mahnmal hilft, daraus ein gegenwärtiges Erlebnis zu machen und nicht nur ein historisches. Und diesem gegenwärtigen Erlebnis verleihen wir durch die jährliche Einladung an eine globale Persönlichkeit Ausdruck", sagt Marte. Die Kraft der Gedenkstätte sei es, "auf das Kontinuum der Geschichte zu verweisen und daher noch stärker an die Verantwortung zu appellieren. Darauf zu schauen, dass der Umgang mit Menschen nie einer sein sollte, der von Hass, Niedertracht oder Rassismus geprägt ist." Dabei sei es letztlich ein gewichtiger Unterschied, woher der Antrieb für Gedenkveranstaltungen komme. "Wir wollen im Gegensatz zur verordneten Erinnerungskultur, die ja auch stattfindet, und im Gegensatz zu einer verordneten Gedenkveranstaltung, etwas Zivilgesellschaftliches entgegensetzen, etwas Freiwilliges, das nicht aus der Räson heraus passiert, sondern aus dem Herzen. Es ist Erinnerung von unten und Erinnerung von innen."

Treibende Kraft hinter der Neugestaltung des Judenplatzes und der Errichtung eines Mahnmals war Simon Wiesenthal. Die Kernmotivation der "Rede an Europa" erklärt Marte denn auch mit einem Zitat des Mauthausen-Überlebenden, das dem gemeinsam herausgegebenen Buch zum "Projekt Judenplatz" entstammt: "Mögen sich an diesem Ort in Zukunft Wiener, Österreicher, Menschen aus aller Welt, Angehörige aus verschiedenen Religionen und Gesellschaftsschichten ihrer Verantwortung für ein friedliches Miteinander bewusst werden und diese Aufgabe annehmen und erfüllen."