APA - Austria Presse Agentur

Toxische Identitätspolitik: "Die Ärztin" im Burgtheater

Political Correctness im Social-Media-Zeitalter, Postenschacher als epochenübergreifende Praxis und nicht zuletzt die Frage, wer über Ethik und Moral zu bestimmen hat: Im Burgtheater setzt der britische Regisseur Robert Icke in seiner Schnitzler-Überschreibung "Die Ärztin" vor allem auf das Thema Identität und Zuschreibung in einer Welt, in der nicht nur Religion, sondern auch Hautfarbe, Geschlecht und soziale Zugehörigkeit für alle Beteiligten ein glattes Parkett darstellen.

"Sehr frei nach 'Professor Bernhardi'" hat Icke in seinem Wiendebüt einen packenden Abend geschaffen, der bei der Premiere am Freitagabend einhelligen Jubel im Publikum auslöste. Dennoch leidet die coronabedingt mehrfach verschobene Inszenierung, in deren Mittelpunkt mit Sophie von Kessel als Professor Ruth Wolff eine starke weibliche Figur steht, in der ersten Hälfte des Abends an zu viel Tempo, das die feinen Nuancen in Ickes Dialogen allzu oft niederwalzt. Der möglicherweise der 22-Uhr-Sperrstunde geschuldeten Hektik könnte man in Zukunft vielleicht durch einen früheren Beginn entgegentreten. Nach einem starken Auftakt im Anschluss an die Pause gerät die Inszenierung dann etwas zu sehr ins Philosophische, das aufkommende Pathos steht im Widerspruch zu jener medizinischen Klarheit, um die zuvor 150 Minuten lang gerungen wurde.

Von Klarheit geprägt ist auch das Bühnenbild von Hildegard Bechtler: In einem Halbrund in Sichtbetonoptik gruppiert sich die Ärzteschaft der Privatklinik um einen langen Tisch, der sich fast unablässig im Kreis dreht, weit oben thront ein Schlagzeug, das den Soundtrack des Abends bildet. Dasselbe Setting - in anderer Lichtstimmung - führt auch ins Wohnzimmer von Wolff, die nach der Abweisung eines katholischen Priesters am Bett einer sterbenden Jugendlichen ins öffentliche Kreuzverhör, oder besser gesagt: einen Shitstorm gerät. So weit, so Schnitzler. Doch Icke hat ganze Arbeit geleistet, das 1912 in Berlin uraufgeführte Werk auf jenen Kern zu reduzieren, um den es ihm geht: Diversität, Identitätspolitik und toxische Öffentlichkeitsdiskurse. Dennoch schafft er es mit wohldosiertem (Galgen)Humor, im Publikum auch einige Lacher zu evozieren.

So bricht er die Schnitzler'sche Herrenrunde nicht nur durch den Fokus auf eine weibliche Hauptfigur auf, die sich im immer noch männlich dominierten Feld der Spitzenmedizin doppelt zu bewähren versucht, sondern setzt durchgehend auf Cross-Besetzungen, die sich meist nur über aufmerksames Zuhören entfaltet. Wer hier weiß ist oder schwarz, männlich oder weiblich, kommt meistens dann an die Oberfläche, wenn es um die Verteidigung - oder Ablehnung - von Gruppenzugehörigkeiten geht. Eine Ausnahme macht Icke jedoch bei Wolffs nationalistischem (und antisemitischem) Widersacher Professor Hardiman, den die türkischstämmige Zeynep Buyraç als etwas ungelenke Hosenrolle gibt. Mit Stacyian Jackson gibt es eine schwarze Gesundheitsministerin, mit Philipp Hauß einen schwarz gelesenen Pfarrer. Der aus Togo stammende Bless Amada geht in der Rolle des loyalen jüdischen Mitarbeiters auf, Bardo Böhlefeld gibt im Herrenanzug die Krankenhauspressechefin Rebecca.

Sie alle verhandeln in der ersten Hälfte des Abends in rasender Geschwindigkeit die Gegenpole von medizinischem Ethos und Recht auf Religionsausübung. Als die Causa mit einer rasant wachsenden Onlinepetition immer höhere Wellen schlägt, muss Professor Wolff den Hut nehmen, um weiteren Schaden von ihrem Institut abzuwenden. Doch damit hat die Meute noch nicht genug. Statt wie bei Schnitzler ein Gerichtsverfahren, entscheidet hier eine Fernsehkonfrontation, bei der Wolff nur verlieren kann, wenn sie sich im Scheinwerferlicht etwa einem Aktivisten "mit Schwerpunkt post-koloniale Theorie" oder der Leiterin einer "nationalen Aktionsgruppe zur Bekämpfung unbewusster Vorurteile" gegenübersieht. Sophie von Kessel hält den Bogen den ganzen Abend zum Zerbersten gespannt und beeindruckt auf ihrem Weg von der selbstbewussten Medizinerin hin zur gebrochenen Existenz.

Zu Beginn kämpft die Ärzteschaft noch gegen die "Meinung aus dem Internet" an, wenn es etwa heißt: "Die Presse liebt Stories über Ethik in der Medizin, unser Institut hat Geld, wir geben also eine gute Zielscheibe ab - Wissenschaft gegen Glauben." Auch einen Seitenhieb auf aktuelle Diskurse verkneift man sich nicht, wenn Bless Amada festhält: "Menschen, die lieber sterben würden, als technischen Fortschritt anzunehmen - Menschen, die sich vor jeder neuen Idee fürchten, worauf ich nur sagen kann: 'Sterbt ruhig, wenn ihr wollt, aber meine Kinder werden geimpft'". Und wenn in der Medizin die eigene Biografie des Arztes oder der Ärztin ins Spiel kommt, wird befürchtet: "Dann müssen wir uns im Klaren darüber sein, was das bedeutet, denn das hieße jüdische Ärzte für jüdische Patienten und fette Ärzte für fette Patienten."

Kurz vor dem Ende, wenn Professor Wolff wegen des Vorfalls mit dem Priester schließlich ihre Zulassung verliert, trifft sie noch einmal auf den Gottesmann. Gemeinsam versuchen sie, die wissenschaftliche und die religiöse Weltanschauung auf einen Nenner zu bringen, was eine Menge Pathos mit sich bringt. Ganz am Ende löst Robert Icke nicht nur die Rolle der schemenhaften Figur in Professor Wolffs Wohnzimmer auf, sondern entscheidet sich auch für eine radikale Lösung von Wolffs Dilemma, die sprachlos zurücklässt. Nach einer Schrecksekunde würdigte das Publikum diesen packenden Schnitzler-Zugriff mit lang anhaltendem Applaus, bevor man sich aufgrund der 22-Uhr-Sperrstunde rasch auf den Heimweg machte.

(S E R V I C E - "Die Ärztin" von Robert Icke sehr frei nach Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler im Burgtheater. Regie: Robert Icke, Bühne und Kostüme: Hildegard Bechtler. Mit u.a. Sophie von Kessel, Philipp Hauß, Zeynep Buyraç, Bless Amada, Stacyian Jackson und Ernest Allan Hausmann. Weitere Termine am 11., 17. und 28. Jänner. Infos und Tickets unter www.burgtheater.at)