Ukraine-Front-Doku für "Publikum, das nicht hinsehen will"

Der grausame Alltag des Krieges
Mit "Eastern Front" hat das Filmfestival Crossing Europe zur Eröffnung recht schwer verdauliche Kost serviert.

Die Doku der aus der Ukraine stammenden Filmemacher Vitaly Mansky und Yevhen Titarenko zeigt den Kriegsalltag in der Ukraine aus der Sicht eines Sanitätsbataillons. Das Publikum wird nicht mit Verpixelungen geschont. "Es ist meine Verantwortung, den Film auch einem Publikum zu zeigen, das nicht hinsehen will", sagte Mansky nach der Österreichpremiere Mittwochabend.

Yevhen Titarenko schloss sich mit der Kamera für mehrere Monate einer Gruppe von Rettungssanitätern an, die Verwundete an der ukrainischen Front bergen, und dokumentierte das mit der Kamera. Gemeinsam mit Vitaly Mansky verarbeitete er die Bilder zu "Eastern Front". "Wir sind beide Ukrainer", betonten die Filmemacher im Gespräch mit dem Publikum, und Mansky hält fest: "Für mich begann der Krieg 2014" - also mit der Annexion der Krim und nicht erst mit Kampfhandlungen im Donbass oder dem Überfall Russlands vor gut einem Jahr.

Mansky hat sich von Putin-Regime distanziert

Mansky, der auch in der Wettbewerbsjury von Crossing Europe sitzt, ist ein ukrainischstämmiger russischer Dokumentarfilmer, der sich unter Präsident Wladimir Putin zunehmend vom Regime distanziert hat und seit der Annexion der Krim in Lettland lebt und arbeitet. 2017 wurde sein Film "Close Relations", eine Familienaufstellung zum Ukraine-Konflikt, bei dem Linzer Festival als beste Doku ausgezeichnet. 2019 beleuchtete er in "Putin's Witnesses" den Aufstieg des heutigen Machthabers im Kreml. Nun hat er sich mit Yevhen Titarenko entschlossen, den Alltag an der Front zu zeigen.

Titarenko hat sich für mehrere Monate einem Sanitätsbataillon in der Ukraine angeschlossen, den "Hospitallers", die Verletzte nach Explosionen oder vom Schlachtfeld bergen. Sie tragen keine weißen Kittel, sondern Armeekleidung und Waffen. Vorbei an Panzersperren rasen sie zu Beginn des Films mit einem Getroffenen ins Krankenhaus. Im Wagen kämpfen sie um das Leben des Verletzten, während der Fahrer sein Bestes gibt - die Sirene ist kaputt, bei jeder Kurve und jeder Fahrbahnschwelle schreit er eine Warnung, dann halten die anderen den immer schwächer werdenden Mann fest. In der Spitalszufahrt muss der Patient wiederbelebt werden. Ob mit Erfolg, erfährt man nicht, die Hauptfarbe des Opfer legt nahe - nein.

Die Szenen von der Front bzw. den Einsätzen sind in der Minderzahl, dafür umso eindringlicher. Abgetrennte Gliedmaßen und Sterbende werden dem Publikum auf der Kinoleinwand ebenso zugemutet wie eine im Sumpf unter gequälten Schreien verendende Kuhherde oder die Tötung eines Hundes bei einem Einsatz, komplett zerstörte Wohnblöcke und Explosionskrater - einmal fällt der Vergleich mit Dantes "Inferno". Die manchmal subjektive Kameraführung macht klar, was es heißt, um das Leben eines Patienten zu rennen oder um das eigene. Ohnehin hat jeder jemanden im Krieg verloren.

Szenen aus dem "normalen" Leben

Dazwischen zeigen die Filmemacher das "normale" Leben, das auch weitergeht. Die Männer, die gerade noch Verletzte aus Bombenkratern geborgen haben, versammeln sich bei einer Taufe mit anschließendem Familienessen - dass sich das Tischgespräch lange um die Frage "Soll ich meine Spermien einfrieren lassen?" dreht, zeigt, dass man in einer Ausnahmesituation lebt - oder am Badesee, wo heftig über russische Propaganda und die Veränderung in den Köpfen der Ukrainer seit dem Einmarsch der Russen diskutiert wird. Der ständige Wechsel zwischen Alltag und Frontalltag verschafft dem Publikum immer wieder eine kurze Verschnaufpause, macht die Kriegseindrücke aber umso realer und lässt sie noch mehr unter die Haut gehen.

Nach der Filmpremiere ist das Publikum still. Eine Zuseherin bedankt sich bei Mansky und Titarenko für die schonungslosen Bilder, die einen tiefen Eindruck hinterlassen haben und einen Blick auf den Krieg geben, den man in den Nachrichten nicht bekommt. "Es ist kein Film für ein Publikum, das ihn im Vorbeigehen sieht", räumt Mansky ein, dass es sich um schwere Kost handelt, aber andererseits wolle er auch jene erreichen, die eigentlich nicht hinsehen wollen. "Vielleicht wäre es am besten, den Film einem Publikum zu zeigen, das eigentlich eine Komödie erwartet hätte - und dabei die Türen des Kinosaals zuzusperren", überlegt er laut. Doch viel will Mansky über den Film gar nicht reden, auch wenn das auf Festivals nach dem Screening so üblich sei: "Eigentlich sollte man jeden mit seinen Gedanken jetzt alleine lassen", meint er nach der Vorführung. Gesagt getan. Das Publikum applaudiert den Filmemachern und geht sichtlich in Gedanken hinaus.

"Eastern Front" (Shidniy Front") von Vitaly Mansky und Yevhen Titarenko, Dokumentarfilm, www.crossingeurope.at/

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