Ukrainische Aktivistin Matwijtschuk hält "Rede an Europa"
Initiiert wurde die Reihe "Rede an Europa" von der ERSTE Stiftung, dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und den Festwochen in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Wien. Deren Vertreter unterstrichen im Rahmen einer Pressekonferenz die internationale Strahlkraft des Vorhabens. So habe die 2019 gehaltene Rede, die Timothy Snyder, Professor für Geschichte an der Universität Yale und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, gehalten hatte, "eingeschlagen" und werde nun sogar als permanente Installation im Europäischen Parlament gezeigt, wie Boris Marte, Vorstandsvorsitzender der ERSTE Stiftung, sagte. Auch Artemis Vakianis, kaufmännische Geschäftsführerin der Festwochen, zeigte sich "tief überzeugt, dass das Format einer solchen Rede im öffentlichen Raum eine unglaubliche Kraft entfalten kann".
Matwijtschuk eröffnete ihr Statement bei der Pressekonferenz mit einem direkten Einblick in das aktuelle Leben von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern: "Wir alle starten unseren Tag mit den Nachrichten, um zu sehen, was in der Nacht passiert ist." In der vergangenen Nacht sei Kiew bombardiert worden, ihr erster Gedanke sei - wie bei so vielen Menschen so oft - gewesen: "Geht es meiner Familie gut? Kann ich noch in meine Wohnung zurück?", so die 39-Jährige, die sich selbst als "Menschenrechtskämpferin" bezeichnet und Kiew zu Beginn der Kriegshandlungen bewusst nicht verließ.
Sie habe mit zahlreichen Menschen gearbeitet, die von den Gräueltaten während ihrer russischen Gefangenschaft berichtet hätten. "Diese Leute, die die Hölle überlebt haben, müssen ihr gebrochenes Leben wieder aufbauen, aber auch ihren Glauben an Recht und Gerechtigkeit." Das Problem im aktuellen Krieg sei, dass sie gesehen habe, "wie schnell der Krieg die Menschen in Nummern verwandelt haben. Es ist unmöglich, alle Geschichten zu erzählen". Von Einzelschicksalen würde die Welt nur im Falle von Gerichtsverfahren erfahren. "Wir können die Leben dieser Menschen damit zwar nicht zurückholen, aber ihre Würde und ihre Namen. Die Russen glauben, dass sie tun können, was sie wollen. Wir müssen diesen Kreislauf der Gewalt unterbrechen. Nicht nur für die Ukraine, sondern auch für alle Menschen, die potenziell von Russland angegriffen werden können."
Und so plädiert Matwijtschuk für einen globalen Ansatz, den Umgang mit Kriegsverbrechen zu ändern. "Wir haben nach wie vor kein Gericht, das Staatsführer wirklich zur Verantwortung ziehen kann. Aber sie müssen bestraft werden. Wir brauchen ein eigenes Tribunal mit historischer Verantwortung und politischer Courage", das von mehreren internationalen Organisationen getragen werde. Es sei nicht damit getan, wie bei den Nürnberger Prozessen erst nach Ende des Krieges damit zu beginnen. "Die Gerechtigkeit kann nicht mehr warten", so Matwijtschuk.
Zugleich zeigte sie sich dankbar und erfreut über die breite Solidarität, die das ukrainische Volk weltweit auch von der Zivilbevölkerung erfahren habe. "Alle wollen wissen, was sie noch tun können, weil sie kaum Fortschritte sehen. Aber es ist nicht umsonst! Massenmobilisierung kann den Lauf der Geschichte ändern", ist Matwijtschuk überzeugt. Auch Medien, die etwa von Angriffen auf Zivilisten berichten, würden eine große Rolle darin spielen, "die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und das ist in diesem Krieg enorm wichtig."
Nun gehe es ihr aber vor allem darum, das Narrativ über diesen Krieg zu ändern. "Bisher haben viele Staaten gesagt, dass sie uns dabei unterstützen werden, nicht zu verlieren. Nun muss es aber heißen: Wir helfen der Ukraine, um schnell zu gewinnen!" Sie selbst hat die Hoffnung, "dass diese Tragödie, die wir durchleben, dazu führt, dass es eine kardinale Änderung der internationalen Architektur kommt".
(S E R V I C E - Wiener Festwochen: "Eine Rede an Europa" von Oleksandra Matwijtschuk. Heute, Dienstag, 19 Uhr am Judenplatz. Die Veranstaltung wird auch auf www.erstestiftung.org/ live im Internet übertragen. www.festwochen.at)
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