Vom Embryo zum Kleinkind: Margit Schreiners "Mobilmachung"

Margit Schreiner erzählt über ihre frühe Kindheit
Die Linzer Autorin Margit Schreiner wird am 22. Dezember 70 Jahre alt. Es dürfte wenige Menschen geben, die sich derart genau an ihre ersten beiden Lebensjahre erinnern. In ihrem soeben erschienenen neuen Buch "Mobilmachung. Über das Private" erinnert sie sich sogar an ihre ersten Monate im Mutterbauch, als wäre es gestern gewesen, und hat erstaunlich präzise Vorstellungen über die Evolution, die sie als Embryo nachvollzieht. Ein Buch zum Schmunzeln, hellsichtig und charmant.

"Alles an Margit Schreiners literarischem Tun und Trachten ist darauf angelegt, unterschätzt zu werden", meinte Daniela Strigl vor 14 Jahren als Laudatorin über das umfangreiche und vielfach ausgezeichnete Werk der Autorin, "die gar gewöhnlichen Themen ihrer Bücher, deren eher bescheidener Umfang, ihre schlichten Befunde, hinter denen sich die Philosophin tarnt, ihr raffiniert schmuckloser Stil, der mit einigem Aufwand an Musikalität, Redundanz und Elliptik mündliche Rede simuliert." Diesmal erweist sich Schreiner als wahre Baronesse Münchhausen. So detailreich und luzide hat noch niemand über seine ersten Lebenserinnerungen vom Zellklumpen bis zum 2. Geburtstag fabuliert.

Für ihr vor drei Jahren erschienenes Buch "Vater. Mutter. Kind. Kriegserklärungen" erfand Schreiner eine aufmüpfige Siebenjährige, um den Bogen vom Wackelzahn bis zur Zahnprothese schlagen zu können. Diesmal ist es eine Zweijährige, die bereits anhand der väterlichen Morgenzeitung lesen gelernt hat (was sie sich jedoch hütet, dem Rest der Welt preiszugeben), im Laufställchen tiefgründige philosophische und physikalische Überlegungen anstellt und von ihrer Einzigartigkeit überzeugt ist: "Ich fühlte bereits nach den ersten paar Zellteilungen, dass etwas Großartiges entstanden war, und wanderte in Form einer winzigen Brombeere zur Gebärmutter, in der ich mich einzunisten gedachte. Ich muss gestehen, dass ich ihre neutrale Liebenswürdigkeit, mit der sie mir ein kuscheliges Plätzchen schuf, der späteren, doch sehr von Launen gesteuerten wirklichen Mutter vorzog."

Die Eltern werden in diesem sehr frühen Coming-Of-Age-Roman, der gleichzeitig mittels vieler Anekdoten das zeit- und familiengeschichtliche Dokument eines Aufwachsens im Linz der 50er-Jahre ist (die Stahlstadt befindet sich noch unter einer dichten Smog-Glocke, Symbol des Fortschrittes und nicht der Umweltverschmutzung), überaus kritisch gesehen. In der nüchternen Analyse der kleinkindlichen Erzählerin heißt das: viel Liebe, aber auch viel Unverständnis. Das könnte besser gehen!

Das gilt aber auch für die eigenen Gehversuche. Die wollen schließlich bedacht und durchdacht sein, man weiß doch, um welch wichtigen Schritt es sich dabei für die Geschichte der Menschheit wie auch für die eigene Entwicklung handelt! Die "Mobilmachung" erfolgt dann schlagartig, als zum zweiten Geburtstag ein Dreirad überreicht und sogleich tollkühn in Betrieb genommen wird. "Weil es mir lächerlich erschienen wäre, nach dieser großartigen, rasanten Fahrt durch unsere Wohnung von meinem Dreirad abzusteigen und zurück zu meinen Eltern zu robben, gab ich meinen Widerwillen gegen das Gehen auf und kehrte aufrecht zu meinen Eltern zurück. Ich war am 22. Dezember 1955 mit nur zwei Jahren mobil geworden. Und die ganze Welt stand mir offen."

(S E R V I C E - Margit Schreiner: "Mobilmachung. Über das Private", Schöffling & Co, 192 Seiten., 24,70 Euro, Buchpremiere am 12. September, 19.30 Uhr, im StifterHaus Linz, Adalbert-Stifter-Platz 1; www.margitschreiner.com)

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