APA - Austria Presse Agentur

Wiener Familienroman aus den Niederlanden: Fantos "Viktor"

Ein niederländischer Roman, der zu großen Teilen im Wien der 1910er- bis 1930er-Jahre spielt und einer jüdischen Familie ein Denkmal setzt? Judith Fanto, 1969 geboren, hat sich auf die Spuren ihrer Familie begeben. "Meine Großmutter wurde an dem Tag geboren, an dem Gustav Mahler starb", beginnt das Buch, das sie nach ihrem Großonkel "Viktor" genannt hat. Im Vorjahr ist das Buch in den Niederlanden als bestes Debüt ausgezeichnet worden. Nun liegt die deutsche Übersetzung vor.

"Viktor" hat zwei große Erzählstränge. Einerseits erweckt dieser Familienroman jene Teile der Familie Rosenbaum zum Leben, über die später in strikter Vermeidung des üblichen Vokabulars für Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden auf Nachfrage mit einem schlichten "Der/die lebt nicht mehr" gesprochen wurde. Andererseits schildert er die Zerrissenheit der in den Niederlanden der 1990er-Jahre lebenden Ich-Erzählerin Geertje, dem Alter Ego der Autorin, die sich als Mitglied des "dreizehnten Stamms, des Stamms der nichtjüdischen Juden", in einer Art Wiedergutmachung zum Judentum hinwendet. Die weitgehend areligiös erzogene junge Frau ändert ihren Vornamen in Judith und wird Mitglied der jüdischen Gemeinde von Nimwegen.

Die entscheidende Vorsprache bei dem aus den USA stammenden jungen Rabbiner, dem nachgewiesen werden muss, dass Judiths im Krieg im Versteck geborene Mutter ihrerseits jüdisch ist, und der ausgerechnet die IKG, die Israelitische Kultusgemeinde in Wien, nicht kennt, schildert Fanto mit grimmigem Humor als große, absurde Szene. Nicht nur hier muss man an Eva Menasses Erfolgsroman "Vienna" denken, auch das erste Familienessen mit dem gegen alle Konventionen rebellierenden neuen Freund des Schwester ist hoch komisch. Denn die Familienmitglieder suchen sich eigenwillig, eloquent und schwer traumatisiert ihren eigenen Weg durch schmerzhafte Erinnerungen und religiöse Vorschriften - und stellen ihre eigenen Ge- und Verbote auf, samt Möglichkeiten, diese zu umgehen.

Und so folgt man als Leser Schritt für Schritt beiden Wegen. Jener von Viktor, dem geschäftstüchtigen und schlitzohrigen Frauenhelden mit großem Herzen und heldenhaftem Mut, führt durch das turbulente Wien der Zwischenkriegszeit geradewegs hinein in den NS-Terror. Jener von Geertje führt in eine selbst gewählte neue Identität, die von Altlasten und Bürden geprägt ist und das Schicksal ihrer Familie, ja des ganzen Volkes schultern möchte. "Es ist nicht deine Schuld", wird ihr mitfühlend in der jüdischen Gemeinde beteuert. Ihr Leiden lindert das ebenso wenig wie ihre Teilnahme am Gesprächskreis "Wem gehört die Schoah?".

Mit Fortdauer des flott geschriebenen und in kurzen Abschnitten zwischen den Zeiten springenden Buches wird der angeschlagene Ton dunkler. Viktor gelingt es unter Aufbietung aller seiner Chuzpe und seiner finanziellen Reserven, den bereits nach Dachau deportierten Bruder zu befreien und einem großen Teil der Familie die Flucht nach Belgien zu ermöglichen, wo diese konvertieren und sich in einem Kloster verstecken können. Judith entdeckt Jahre später am Dachboden und in Gesprächen neue Details aus der Familiengeschichte, die sie erneut in tiefe, existenzielle Zweifel stürzen. Ihre Geschichte nimmt schließlich doch ein gutes Ende, jene von Viktor endet 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinez. Judith Fanto hat dafür im Epilog ihres empfehlens- und lesenswerten Buches ebenso poetische wie ergreifende Worte gefunden. "Viktor" wird beiden gerecht - denen, die gegangen sind, und denen, die ihnen aus dem Heute nachschauen.

(S E R V I C E - Judith Fanto: "Viktor", Deutsch von Eva Schweikart, Verlag Urachhaus, 416 Seiten, 24 Euro)