APA - Austria Presse Agentur

"Wilhelm Tell" in Zürich: Gegen Gessler und Bührle

Die Bührle-Debatte geht weiter. Diesmal auf der Bühne des Zürcher Schauspielhauses. In Milo Raus Neuinszenierung des "Wilhelm Tell" wird der "Anbau des Kunsthauses, in dem die Waffenfirma Bührle ihre Sammlung zeigt", als neue "Zwing-Burg" bezeichnet, "Hängt den Bührle an ein Schnürle" ist auf einem Transparent über dem Eingang einer Kapelle zu lesen, und von einem Rednerpult aus berichtet Irma Frei davon, 1958-61 Zwangsarbeit in der Bührle-Spinnerei geleistet zu haben.

Der 45-jährige Schweizer Regisseur Milo Rau gilt als einer der radikalsten Denker des zeitgenössischen Theaters. Auch seine Interpretation des Schweizer Nationaldramas, die am Samstag Premiere hatte, kommt vor allem aus dem Kopf und geht wenig zu Herzen, ist vor allem intelligente Konzept- und Dramaturgie-Arbeit und bietet kaum Theaterbilder oder Momente, die einen mitnehmen in die Geschichte von Unterdrückung und Befreiung, Anmaßung und Verzweiflung, wie sie von Friedrich Schiller erzählt wurde.

"Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne ist verboten", schreibt Rau in seinem "Genter Manifest", mit dem er 2018 seine Direktion am NTGent angetreten ist. "In jeder Produktion müssen auf der Bühne mindestens zwei verschiedene Sprachen gesprochen werden", heißt es dort, oder: "Mindestens zwei der Darsteller, die auf der Bühne zu sehen sind, dürfen keine professionellen Schauspieler sein." Es sind Maximen, an die sich der Regisseur auch beim "Tell" hält, der tatsächlich wenig schillernd ist: Textlich bekommt man vom Original nur die eine oder andere Schlüsselszene zu hören, und die auch nur in Rudimenten.

Der aus Mazedonien stammende Inspizient Sascha Dinevski erzählt in seiner Muttersprache über seine Arbeit am Schauspielhaus (und darüber, dass er hier nun bereits unter der neunten Intendanz arbeitet), und mit ihm wirken weitere neun Nicht-Schauspiel-Profis mit. Neben der ehemaligen Zwangsarbeiterin Frei, die für einen der beklemmendsten Momente sorgt, sind es etwa der im Rollstuhl sitzende Aktivist Cem Kirmizitoprak ("Cems Bond, der Inklusionsagent") oder der aus Eritrea stammende Flüchtling Hermon Habtemariam, der in einer Filmszene in der Wasserkirche in Zürich die Offizierin Sarah Brunner heiratet, um einen sicheren Aufenthaltsstatus zu erhalten. "Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern", heißt es im Genter Manifest. Die gezeigte Hochzeit sei jedoch nur "symbolisch" gewesen, heißt es in einem Begleittext.

Offen gelegt wird der Produktionsvorgang. 400 Menschen haben sich für Castings gemeldet, mit 40 wurde gesprochen. "Was ist Freiheit?", war eine der Fragen, und: "Was bedeutet der Tell heute?" Die weitere Stück-Entwicklung war von ihnen abhängig. So bilden nun Rassismus und Inklusion, alte Faschismen und neue Ungleichheit die Themen und nicht Krieg und Krise. Der Freiheitsbegriff, der Menschen gegen Anti-Corona-Maßnahmen protestieren lässt, bleibt in diesen 100 Minuten ebenso eine erstaunliche Leerstelle wie die Militarisierung und Aufrüstung der Gegenwart im neuen Ost-West-Konflikt, der den Aktienkurs der Waffenfirmen in die Höhe schnellen lässt.

Film und Stummfilm wird mehrfach eingesetzt, einmal das Kino-Massaker aus Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" zitiert. Das Theater beschäftigt sich aber auch mit sich selbst. Michael Neuenschwander hat den Tell hier vor zehn Jahren schon einmal gespielt, Sebastian Rudolph erinnert sich an seinen Hamlet in Christoph Schlingensiefs umstrittener Inszenierung 2001 am Schauspielhaus, mit der dieser direkt ins politische Geschehen der Stadt eingriff. Diesmal spielt Rudolph den Gessler in Nazi-Uniform - eine Anspielung auf die historische Tell-Inszenierung von Oskar Wälterlin von 1939. Zu Beginn und gegen Ende von Raus Neuinszenierung wird via Tonband ein Zitat aus dem damaligen Programmheft vorgespielt: "In einer Zeit, wo Parteiung die Welt an den Rand des Abgrunds zu zerren droht, hat die Kunst ihren bedeutungsvollen Platz in einem Land, dessen Sinn Neutralität ist. Nicht eine Neutralität, hinter der man sich ängstlich verschanzt, sondern Neutralität als Überparteilichkeit, als Boden der Wahrheit, die wir in unserem Bezirk, dem Theater, erkämpfen wollen, soweit sie uns erreichbar ist."

Überparteilichkeit ist freilich das Gegenteil von Milo Raus Bestreben. Jeder der mitspielenden Laien darf seine Lieblingsszene aus "Wilhelm Tell" nennen. Für die junge Meret ist es eine Szene am Schluss, die meist gestrichen wird. In ihr wendet sich der Kaiser-Mörder Herzog Johann Parricida von Schwaben hilfesuchend an Tell. "Er sagt: Der Vogt ist nicht das Problem. Sondern das ganze System ist das Problem. Unser Zusammenleben muss ein völlig anderes werden", fasst sie zusammen. "Und Tell weist ihn ab. Der Held der Revolution. Er will eigentlich gar nicht, dass sich etwas ändert. (...) Sehr schweizerisch, nicht?" Kein Protest, sondern höflicher, durchaus zustimmender, aber keineswegs euphorischer Schlussapplaus. Wenn dieser Tell etwas getroffen hat, dann jedenfalls nicht das Herz der Zuschauer.

(S E R V I C E - "Wilhelm Tell" nach Friedrich Schiller, Inszenierung: Milo Rau, Bühne und Kostüme: Anton Lukas, Video: Moritz von Dungern. Mit Maya Alban-Zapata, Maja Beckmann, Michael Neuenschwander, Karin Pfammatter, Sebastian Rudolph u.v.a., Schauspielhaus Zürich, Nächste Vorstellungen: 26., 30.4., 1.5., www.schauspielhaus.ch)