Wunden in der Mutterhaut: "Kleine Monster" von Jessica Lind

"Kleine Monster": Jessica Linds zweiter Roman
Das Madonnenbildnis - der Inbegriff mütterlicher Liebe und Fürsorge. Seit Jahrhunderten fordert dieses Symbol das Zurückstecken eigener Bedürfnisse und die unabdingbare Aufopferung für die Familie. Doch was, wenn eine Frau diesem Maßstab nicht mehr gerecht werden kann? Wenn Verletzungen und Schwächen nicht länger verdrängt werden können? In ihrem zweiten Roman "Kleine Monster" bricht die Österreicherin Jessica Lind mit diesem Tabu und zeigt die Grenzen mütterlicher Hingabe.

Eigentlich sind die Ich-Erzählerin Pia, ihr Ehemann Jakob und ihr siebenjähriger Sohn Luca eine ziemlich normale Familie. Chiapudding zum Frühstück, geregelte Netflix-Zeiten für den Kleinen, eine 50:50-Aufteilung der Elternarbeit - alles, wie es von Millennials zu erwarten wäre. Doch die Drei werden auf eine harte Probe gestellt, als die Eltern in die Schule ihres Sohnes zitiert werden. Es gab einen Vorfall zwischen Luca und einem Mädchen, als die beiden alleine im Klassenzimmer waren, die Details werden verschwiegen. Ausgelöst durch dieses Ereignis fängt Pia an, ihr Kind immer mehr zu hinterfragen, es als "kleines Monster" wahrzunehmen und an ihrer Mutterliebe zu zweifeln. Wutausbrüche und handgreifliche Auseinandersetzungen sind die Folge, genauso wie Probleme in der Beziehung zu Jakob, der völlig kontrastiv als verständnisvoller, sich aufopfernder Vater gezeichnet wird.

"Dieses Kind. Es hat uns durchschaut, es weiß genau, wie ahnungslos wir sind, und das nutzt es aus", heißt es an einer Stelle. Fast schon wahnhaft sieht Pia einen hartherzigen Lügner in Luca und projiziert Gedanken in den Siebenjährigen, die eigentlich erst von einem Erwachsenen zu erwarten sind. Sie bewegt sich zwischen Ärger, Misstrauen und Schuldgefühlen und scheint dabei immer mehr den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Die 1988 in St. Pölten geborene Autorin, die an der Filmakademie Wien studierte, schafft es diese Dynamik wie einen Sog, in den der Leser immer mehr hineingezogen wird, zu zeichnen. Dabei bedient sie sich einer nüchternen Sprache mit kurzen Sätzen und zahlreichen Figurenreden, an denen ihre Erfahrung als Drehbuchautorin (u.a. "Rubikon") erkenntlich wird.

Nicht Luca steht im Mittelpunkt des Romans, sondern Pia selbst, deren innerliche Abgründe ungeschönt in der Ich-Perspektive erzählt werden. Während sie ihrem Sohn immer argwöhnischer gegenübersteht, reißen gleichzeitig ihre alten Kindheitswunden auf und werden in zahlreichen Rückblenden erzählt. Ihre jüngste Schwester Linda starb als kleines Kind bei einem schrecklichen Unfall, die einzige Zeugin ist Pias Adoptivschwester Romi. Jahrzehntelanges Schweigen und Romis Bruch mit der Familie folgten dem Schicksalsschlag und drängen sich zunehmend in die Gegenwart der Ich-Erzählerin.

Etwas unklar bleibt, warum genau der Schulvorfall ihres Sohnes das unverarbeitete Trauma hervorruft, und an manchen Stellen mag sich Lind einer trivialen Figurenzeichnung und Psychologisierung bedienen. Doch sie schafft es, mit einer an einen Thriller grenzenden Spannung, den Druck, unter dem Mütter heutzutage leiden, aufzuzeigen. Sie gesteht ihnen wieder Menschlichkeit zu und offenbart, dass das Idealbild der Mutter ein nicht erreichbares Ziel ist. "Die Liebe ist keine Selbstverständlichkeit für mich. Die Mutterhaut, die ich trage, passt nicht wie angegossen", schreibt Lind in ihrem Roman und bringt die Problematik damit auf den Punkt. Offen bleibt, ob die "kleinen Monster" wirklich nur die eigenen Kinder sind, oder nicht auch die Geister der Vergangenheit, die einen selbst immer wieder einholen.

(Von Anne Fliegel/APA)

(S E R V I C E - Jessica Lind: "Kleine Monster", Hanser Berlin, 256 Seiten, 24,70 Euro; Lesungen und Gespräche: 17.9., 19:30 Uhr, im Literaturhaus Graz; 30.9., 19:30 Uhr, im Café Central Wien; 2.10., 19 Uhr, im Festivalzentrum St. Pölten)

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