"Die Bologna-Entführung": Wir können nicht!
Italiens Altmeister Marco Bellocchio zeichnet sich durch ganz große Gestiken aus. Der italienische Titel seines neuen Films "Rapito" erscheint in großen, blutroten Buchstaben auf der Leinwand, wie die reißerische Schlagzeile eines Boulevardartikels. Die Musik schwillt an. Im Bologna des Jahres 1858 stapfen Carabinieri mitten in der Nacht zu einem Soundtrack aus Schluchzen und Schreien durch das Haus der jüdischen Mortara-Familie und entführen den sechsjährigen Sohn Edgardo (Enea Sala mit einem Engelsgesicht) nach Rom, damit er unter Papst Pius IX. katholisch erzogen werden kann.
Die fadenscheinige Begründung: ein Dienstmädchen habe den jüdischen Buben in der Wiege mit ein paar Tropfen Wasser heimlich getauft, als niemand sonst im Zimmer war - was ihn zum Christen und seine Entfernung aus einem Zuhause voller "Ungläubiger" erforderlich macht. Für die Mortaras im Jahr 1858 klingt das genauso absurd wie für uns im Jahr 2023.
In Bologna tun die Eltern (Fausto Russo Alesi und Barbara Ronchi) alles, was sie können, um ihr Kind zurückzuholen, indem sie zu den Zeitungen gehen, die den Papst als antisemitisches Entführungsmonster karikieren, und die jüdische Gemeinde mobilisieren. Sein eigener Berater warnt den Papst ausdrücklich vor den politischen Folgen, aber der bleibt standhaft. Er lässt das Kind sogar ein zweites Mal taufen, diesmal in Anwesenheit von Zeugen. Seit wann, brüllt er, muss ein Papst irgendjemandem gefallen? "Non possumus!", bellt er immer und immer wieder. Wir können nicht.
Paolo Pierobon ist ein entsprechend mieser Pontifex im Samtgewand, salbungsvoll und dogmatisch als Ersatzvater für den jungen Edgardo und Bellocchio hat viel Spaß daran, den paranoiden Geisteszustand des letzten "Papstkönigs" darzustellen, wenn wir Zeuge seines Fiebertraums werden, in dem eine Gruppe von Rabbinern in seine Gemächer eindringt und seine Heiligkeit gewaltsam beschneidet.
Der 83-jährige Bellochio zeigt hier seinen dunklen Humor, aber noch viel lieber greift er auf die italienische Oper zurück, ein Stil, der auch in dem 2009er Mussolini-Drama "Vincere" am Werk war. Gefüllt mit theatralischer Extravaganz, emotionalen Exzessen und romantischen Bildern von Italien, untermalt mit wuchtiger Streichermusik von Fabio Massimo Capogrosso, schlittert die "Entführung" fast in eine barocke Seifenoper. Obwohl Bellochio ansonsten ein sehr gutes Gespür für gut inszenierte Melodramen hegt, trägt er hier ein wenig zu dick auf.
Seit über 60 Jahren nähert sich der italienische Chronist, der 1965 mit seinem Regiedebüt "Mit der Faust in der Tasche" Berühmtheit erlangte, immer wieder dem Politischen über das Persönliche, zuletzt in seinem Mafiadrama "Il Traditore" aus dem Jahr 2019. Sein neuer Film ist da keine Ausnahme, eine Geschichte, die auch der große Sentimentalist Steven Spielberg versucht hat, umzusetzen, aber angeblich daran scheiterte, den richtigen Schauspieler für die Rolle des Edgardo zu finden.
Das lässt sich gut nachvollziehen, weil von dem kleinen Enea Sala ziemlich viel verlangt wird. Ausgerechnet der Bub geht in all dem Gezänk irgendwie verloren. Aus Edgardo (als Erwachsener von Leonardo Maltese gespielt) wird ein frommer Priester und Speichellecker des Papstes, aber er ist ein politischer Spielball im großen Fresko von Bellochio, der sich vielmehr für den Untergang des Kirchenstaates zu interessieren scheint. Es ist ein grausiges Kapitel katholischer Übergriffigkeit mit einer grausigen Ironie am Schluss. Als solches ist das Melodram absolut wertvoll, aber der Entführte bleibt ein Rätsel, das wir nicht lösen können. Non possumus.
(Von Marietta Steinhart/APA)
(S E R V I C E - www.filmladen.at)
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