Osteuropaexperte Paul Lendvai wird 95
Geboren wurde Lendvai 1929 in Budapest. Nach der Matura begann er neben seinem Jusstudium im Alter von 18 Jahren journalistisch zu arbeiten. Von den Nazis verfolgt, rettete ihn nur ein Zufall vor der Deportation in ein Todeslager im Oktober 1944. In der Zeit danach wurde Lendvai im kommunistischen Ungarn zum glühenden Marxisten und konnte seine journalistische Karriere fortsetzen, bevor er im Zuge seines Militärdienstes denunziert wurde und für ein Jahr in Haft kam.
Erst 1953 wurde Lendvai amnestiert, musste sich allerdings als freier Journalist und Übersetzer sein Einkommen sichern, da er mit einem Berufsverbot belegt wurde. Schließlich setzte er sich nach Österreich ab, da er die politische Lage in seinem Heimatland nicht mehr ertragen habe, wie er in seinen Memoiren schreibt. Seit 1957 lebt er in Wien, erhielt 1959 die österreichische Staatsbürgerschaft und arbeitete bis 1982 als Osteuropakorrespondent für "Die Presse". Von 1960 bis 1982 war er ebenfalls für die Londoner "Financial Times" tätig und ab 1973 als Chefredakteur und Mitherausgeber der Vierteljahreszeitschrift "Europäische Rundschau". Ein Titel, in dem er eine "publizistische Visitenkarte des neutralen Österreichs" sowie ein "publizistisches Instrument und Sprachrohr der Europäisierung und Humanisierung" sah.
Größere Bekanntheit erlangte er mit seinen außenpolitischen Kommentaren im ORF, wobei er auch maßgeblich am Aufbau der Osteuroparedaktion des ORF beteiligt war. Ab 1982 war er fünf Jahre lang Chefredakteur der Redaktion für Ost- und Südosteuropa des ORF, von 1987 bis 1998 dann Intendant von Radio Österreich International.
Im ORF diskutierte er ab 1980 mit Journalisten und Experten im "Oststudio", das er bis 1989 insgesamt 53 Mal präsentierte. Mit dem Ende des Ostblocks wurde die Sendung 1990 zum "Europastudio". Dieses leitete Lendvai gar 255 Mal, nur zweimal wurde er vertreten. Im April 2024 begrüßte er als 94-Jähriger zum letzten Mal nach 44 Jahren als Gastgeber von ORF-Fernsehdiskussionen die Zuschauer. Zum Abschied sagte er lakonisch: "Auf Wiederschauen."
Im Laufe seiner Karriere veröffentlichte Lendvai etliche Bücher, etwa "Der Rote Balkan - Zwischen Nationalismus und Kommunismus" (1969), "Antisemitismus ohne Juden - Entwicklungen und Tendenzen in Osteuropa" (1972), "Das eigenwillige Ungarn - Innenansichten eines Grenzgängers" (1987), "Mein Österreich. 50 Jahre hinter den Kulissen der Macht" (2007) und "Orbans Ungarn" (2016). In "Die verspielte Welt" (2019) blickte er auf Begegnungen mit den Großen und Mächtigen der Welt zurück und erinnert sich an historische Wenden und politische Zäsuren. 2013 legte er mit "Leben eines Grenzgängers" seine Memoiren vor.
Und Lendvai ist weiterhin aktiv. Er verfasst nicht nur nach wie vor seine seit 2003 wöchentlich erscheinende Kolumne für den "Standard", sondern legte Anfang des Jahres sein 20. Buch namens "Über die Heuchelei" vor. Darin möchte er "insbesondere die Rolle der Heuchelei, der Doppelmoral, der menschlichen und politischen Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit" in der Politik aufzeigen. Er stellt u.a. dar, wie Russlands Präsident Wladimir Putin und Ungarns Regierungschef Viktor Orbán es verstanden haben, westliche Politiker für sich einzuspannen oder sie in Sicherheit zu wiegen.
Seine beruflichen Leistungen haben ihm mehrere Auszeichnungen eingebracht. Neben dem Großen und dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik wurde er u.a. auch mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse ausgezeichnet. Auch wurde ihm der Berufstitel Professor verliehen.
2022 zeichnete ihn der Presseclub Concordia für sein Lebenswerk aus. Dabei hielt er über sich und seine Berufskollegen fest: "Wir zeichnen das Gesicht der Zeit. Ohne uns wäre die Gesellschaft blind und taub, eine leicht lenkbare Masse für jene, die die Zeit des starken Mannes vorbereiten wollen." In Ungarn, seinem Geburtsland, würden bereits die letzten Reste der freien Medienlandschaft still sterben. In Österreich gebe es dagegen noch eine freie Medienlandschaft, machte Lendvai auf diesen kostbaren Umstand aufmerksam.
Den Aufschwung der Rechten und Rechtspopulisten beobachtet er mit Unbehagen. "Die Stärke und Schwäche unserer Demokratie ist, dass sie auch jenen, die diese Demokratie umbauen wollen, völlige Freiheit gibt." Medien täten "zu wenig für die Demaskierung" der Heuchler, aber zu viel für die Befriedigung der Eitelkeit der Politiker, sagte er vor wenigen Monaten in einem APA-Interview.
Warum er nach wie vor analysiert und schreibt begründete er einst damit, dass Langeweile das Schlimmste im Leben sei. "Nichts zu tun, ist furchtbar. Und wenn Sie sich die Welt anschauen: die Ereignisse und die Persönlichkeiten. Wie viel Böses, wie viel Dummheit herrscht, gibt es noch immer zu wenige Menschen, die dagegen ankämpfen." Er selbst sieht sich als "Kämpfer gegen die Dummheit, gegen Extremismus, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Provinzialismus". Das Schreiben von Büchern, Kolumnen und Essays bezeichnete er als "Lebensaufgabe, solange mein Kopf funktioniert".
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