APA - Austria Presse Agentur

"Vienna Calling": Zwischen Sein und Schein im Wiener Popuntergrund

"Vienna Calling" heißt ein Song von Falco. Der ist seit 25 Jahren tot. "Vienna Calling" heißt eine neue Musikdoku, die nicht zurück schaut, sondern ganz am Puls der Zeit sein will. Regisseur Philipp Jedicke heftet sich an die Fersen von Voodoo Jürgens, Der Nino aus Wien oder Kerosin95.

Jedicke ist deutscher Journalist, Jahrgang 1977. Bereits in seinem Leinwanddebüt "Shut Up And Play The Piano" aus 2018 beschäftigte er sich mit Musik und begleitete den virtuosen kanadischen Pianoperformer Chilly Gonzales dreieinhalb Jahre lang. Das Initialerlebnis für seinen zweiten Dokumentarfilm "Vienna Calling" hatte er aber schon ein paar Jahre davor, wie er schildert. 2015 besuchte Jedicke ein Wanda-Konzert in der Wiener Arena.

Es war die Zeit, wo diese Band neben Bilderbuch dafür sorgte, dass Österreich bzw. Wien in Deutschland und darüber hinaus plötzlich als Pophotspot wahrgenommen wurde. Danach zog Jedicke mit Einheimischen durch die Gürtellokale und war elektrisiert von der Energie und Aufbruchstimmung, die er an diesem Abend spürte. Diese Faszination wollte er mit cineastischen Mitteln ergründen und festhalten.

Jedicke suchte also nach illustren Figuren der hauptstädtischen Subkultur und wurde fündig bei den Szenegrößen Voodoo Jürgens und Der Nino aus Wien, dem rappenden türkischstämmigen Geschwisterduo EsRap, dem Falco Tribut zollenden Synthie-Popper Gutlauninger, der Performerin und Autorin Lydia Haider, der schlagzeugspielenden und rappenden nonbinären Person Kerosin95 und dem Undergroundveranstalter Samu Casata. Sie sind seine Protagonistinnen und -protagonisten, wobei der Regisseur auf übliche Musikdokukonventionen wie lange Interviewpassagen, Backstageaufnahmen im Proberaum, Studio oder auf der Konzertbühne, Rückgriffe auf Archivaufnahmen oder eine Off-Stimme verzichtet.

Stattdessen wird dem Personal viel Raum zur (Selbst-)Darstellung gelassen. Authentische Szenen gehen dabei immer wieder über in Inszenierungen zwischen poetischer Bildsprache und Hochglanzmusikvideo, schließlich sollen auch die Songs nach dem Motto "Let the music do the talking" breiten Raum bekommen und die Performer ihrer Fantasie freien Lauf lassen dürfen. Daraus entstehen schöne Kuriositäten - etwa, wenn Nino und Voodoo über körperliche Ertüchtigung philosophieren (Nino: "Ich beginn halt mit einfachen Sachen wie Kniebeugen und hantel mich dann rauf zu Liegestütz'" - Voodoo: "Wie viel Liegestütz' schaffst denn?" - Nino: "Vier"), Kerosin95 im weißen Brautkleid auf ein Drumset in der St. Marxer Betonwüste eindrischt, EsRap und das Filmteam unangemeldet im Elternhaus auftauchen, Gutlauninger im leeren, halb verfallenen Pool Fitnessübungen macht, Nino sich von Erich Joham - hier noch einmal ein Falco-Bezug, hat der Kultfigaro doch bei ihm einst schon die Schere angelegt - die Haare schneiden lässt oder Lydia Haider und Samu Casata gemeinsam eine Art Schwarze Messe in der Wiener Kanalisation zelebrieren.

Überhaupt haben es Jedicke Ort mit dem Anschein einer verrucht-verkommenen Exotik angetan. Beisln und Cafes wie das Schmauswaberl oder das Weidinger, eine Peepshow, der Zentralfriedhof, die Arena sowie Wienfluss und Donaukanal sind die Schauplätze, an denen er die hiesige Subkultur verortet.

Jedickes dramaturgisch unkonventioneller Blick von außen auf die Musikstadt Wien abseits pittoresker Konzertsäle und Walzerseligkeit hat seinen Reiz, bleibt im Endeffekt aber doch arbiträr. Die bruchstückhaft montierten Einblicke lassen nach rund 90 Minuten einen roten Faden vermissen. Dem nicht kundigen Publikum bleibt es selbst überlassen herauszufinden, wer hier eigentlich wer ist. Es scheint, als könnte sich der Film nicht entscheiden, ob er Musikdoku, alternatives Stadtporträt, Panoptikum von Originalen oder ästhetisches Experiment sein will.

So bleibt die Frage, was hier eigentlich für wen erzählt werden soll. Aber womöglich geht es sowieso um etwas anderes. "Das Abenteuerland Wien sehen wir gar nicht", sagt Stefan Redelsteiner, der als Musikmanager schon bei Wanda, Voodoo Jürgens und Der Nino aus Wien die Fäden gezogen hat, gegen Ende des Films offenherzig: "Aber wenn die Deutschen das wollen, wenn sie herkommen und wir sollen ihnen diese Show liefern, dann macht man's halt. Man will ja höflich sein." Es lebe der "Great Rock'n'Roll Swindle".