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Mit diesen veralteten Themen blockiert Schule Freude am Lernen

Damit der Wissensdurst unserer SchülerInnen nicht erlischt, muss Schule am Puls der Zeit bleiben.
Christoph Hahn

Unser Redakteur Chris Hahn hat Deutsch und Musik auf Lehramt studiert und war selbst zwei Jahre lang Lehrer an einem Gymnasium. Über seine Erfahrungen mit Lehrinhalten und deren Aktualität erzählt er in diesem Artikel.

In vielen Bereichen des Lebens muss man das Rad nicht neu erfinden. Eins plus Eins wird immer Zwei ergeben, die Erde sich immer um die Sonne drehen und auch die Naturgesetze werden nicht von heute auf morgen außer Kraft gesetzt sein. In Unterrichtsfächern wie Mathematik, Physik und diversen Naturwissenschaften müsste man daher vorrangig über den Umfang und prioritären Inhalt des Unterrichtsstoffes sowie seine Sinnhaftigkeit reflektieren. Zugegeben, eine ohnehin langwierige Debatte ...

Gänzlich anders verhält es sich allerdings mit Fächern wie Deutsch oder Englisch generell mit all jenen geisteswissenschaftlichen Bereichen, die täglich aufzeigen, dass Leben Dynamik ist. Denn die Gesellschaft wandelt sich bekanntlich genauso rasch wie die Welt, in der wir leben. Und was vor fünf, zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren gesellschaftspolitisch aktuell war, ist heute womöglich schon gänzlich irrelevant.

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Von Geistes- und Gespensterwissenschaften

"Mir fällt nichts mehr ein", war zu meiner aktiven Zeit als Deutschlehrer einer der meistgehörten Sätze. Wenn Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren den Arbeitsauftrag bekommen, einen Text im Umfang von 250 Worten zu schreiben, kann das ihren Stresslevel durchaus in die Höhe katapultieren. Vor allem dann, wenn sie ein Thema vorgesetzt kriegen, mit dem sie nicht viel anfangen können.

Wir stellen uns an dieser Stelle nicht die Frage, wie sinnbefreit es ist, Texte aufgrund der Anzahl ihrer Worte zu beurteilen. Auch nicht jene um den pädagogischen Wert, wenn Kinder, statt sich mit Thema und Inhalt auseinanderzusetzen, die Zeit nervös mit dem akribischen Abzählen der Worte verschwenden, die sie dazu niedergeschrieben haben. Die Themenfrage selbst allerdings – das ist eine durchaus wichtige.

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Kern des Problems

Dass sich Unterricht in den seltensten Fällen an der Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen orientiert, wird ersichtlich, wenn man Textbeispiele betrachtet, die ihnen für Schul- und Hausarbeiten auferlegt werden. Tatsächlich ist eine Pro-und-Contra-Stellungnahme zum Thema "Rauchen in Lokalen" immer noch etwas, mit dem man Kinder beispielsweise bei Schularbeiten zur Textsorte "LeserInnenbrief" quält. Wie lebensnahe dieses Thema und damit einhergehende Reflexionen für Kinder sind, kann sich jede/r selbst beantworten.

Sich aber mit InfluencerInnen, YouTuberInnen, technologischen Entwicklungen, aktuellen Computerspielen, Serien, Filmen oder Podcast-Formaten sowie dem Seelenleben Jugendlicher im Kontext ihrer Zeit auseinanderzusetzen, erfordert Zeit. Und altbewährte, langjährig verwendete Unterrichtsplanungen als logische Konsequenz über den Haufen zu werfen, kann sehr weh tun. Genau hier liegt der Hund begraben.

Bevor nun vielleicht der Eindruck entsteht, ich würde LehrerInnen-Bashing betreiben, möchte ich an dieser Stelle einmal mehr anmerken, dass es etliche KollegInnen gibt, die sich wirklich Mühe bei der Gestaltung ihres Unterrichts geben. Aber ja, auch im Lehrberuf bringt das Alter zunehmende Bequemlichkeit mit sich. Und so lässt es sich, speziell bei den älteren (LehrerInnen-)Semestern, durchaus beobachten, dass die warmgesessene Komfortzone der vergangenen 20 bis 30 Dienstjahre nur ungern verlassen, und Mehraufwand nur widerwillig betrieben wird. Mit Folgen, die für die SchülerInnen von Jahr zu Jahr fataler werden.

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Ein persönlicher Feldversuch

Ein zu meiner Unterrichtszeit (zwischen 2018 und 2020) populärer YouTuber war (und ist nach wie vor) Jan Zimmermann. Auf seinem Kanal "Gewitter im Kopf – Leben mit Tourette" erzählt der junge Mann über sein Leben mit dem Tourette-Syndrom, dem er den Namen "Gisela" gegeben hat. Zudem berichtet er über die damit verbundenen Begleiterkrankungen. Mit dem Ziel "offen, humorvoll aber auch sachlich darüber zu sprechen, um es somit für alle greifbarer und verständlicher zu machen" wie er auf seinem YouTube-Kanal schreibt.

Als in meiner damaligen dritten Klasse Gymnasium die Deutschschularbeit zur Textsorte "LeserInnenbrief" anstand, habe ich drei Themen zur Auswahl gegeben. Eines hatte mit Jan Zimmermann zu tun. Die SchülerInnen hätten auf den Leserinnenbrief einer Frau antworten sollen, die aufgrund seiner erschreckenden Wirkung auf ihre beiden Kleinkinder meinte, Leute wie er gehören in eine geschlossene Anstalt. Unmittelbares Ergebnis: Von 24 SchülerInnen haben sich 22 für den Zimmermann-Text entschieden. Und: Ich hörte kein einziges Mal den Satz "Mir fällt nichts mehr ein".

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Unterm Strich

"Warum geben S' so a Thema? Wie viel hab'n so a Krankheit? Kennen S' wen? Also I ned."

Die Absurdität dieser Aussage aus meinem Kollegium traf mich damals auf mehreren Ebenen. Zum einen wollten die Mitglieder der Fachbereichsgruppe Deutsch meiner Ansicht nach partout vermeiden, mir im direkten Gespräch gegenüberzutreten sowie sich mit der aktuellen Welt unserer Schützlinge auseinanderzusetzen. Wenn nämlich eine Dritte Klasse Schularbeitsthemen wir Jan Zimmermann bekommt, fordern die übrigen Dritten Klassen das auch ein. Der Fairness halber, versteht sich. Ein Problem, das Mehraufwand wittern lässt.

Des Weiteren leidet nicht nur einer meiner persönlichen Freunde an der Krankheit, sondern hatte Jahre zuvor sogar an dieser Schule maturiert. Die schlimmste Lüge bewahrheitete sich aber wieder im Slogan "Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir." In diesem Fall war das Leben in der Schule einmal mehr ein blinder Passagier. 

Real-Talk

Man muss nicht zu jeder Lebensrealität einen direkten Bezug haben. Im täglichen Leben setzen wir uns nicht nur mit Dingen auseinander, die uns selbst betreffen. Wir setzen uns mit all dem auseinander, was uns menschlich weiterbringt. Was unsere Lebensqualität bereichert. Was unseren Horizont erweitert, unser Empathievermögen, die Bewältigung unserer Vergangenheit und die Möglichkeiten unserer Zukunft.

Wir setzen uns mit Themen auseinander, deren Wissen und Bewusstsein auch für andere von Nutzen sein kann  LehrerInnen zugunsten der Kinder, Kinder für sich selbst und wir alle letztlich, hoffentlich und bestenfalls zugunsten der Allgemeinheit.