Adisa Beganovic

Vučjak: Das Flüchtlingslager auf der Balkanroute, das niemanden interessiert

Der Bürgermeister von Bihać will das Lager in der Nähe seiner Stadt so schnell wie möglich schließen. Eine Lösung für die 500 geflüchteten Menschen, die davon betroffen sind, gibt es nicht. Ein Lokalaugenschein.
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Gegen 20 Uhr hält ein privater Hilfskonvoi aus Wien in der kroatischen Ortschaft Turanj in der Nähe von Karlovac, um in der Bäckerei Monika Burek und Wasser für die Weiterfahrt zu kaufen. Acht freiwillige HelferInnen steigen aus einem kleinen Lastwagen und vier Großtransportern aus, unter ihnen auch der Rapper Kid Pex, der die Aktion unter dem Namen "SOS Balkanroute" gestartet, organisiert und durchgeführt hat. Die Fahrzeuge sind mit Sachspenden – Winterjacken, Schlafsäcken, Decken, Schals und sonstiger warmer Bekleidung – gefüllt, die nach Bihać in Bosnien-Herzegowina transportiert werden sollen. Die bosnische Stadt ist rund 500 Kilometer von Wien entfernt.

Ich bin als stille Beobachterin und Journalistin an Bord. Denn Bihać, das im Zuge der Flüchtlingskrise in Verruf geraten ist, ist meine Heimatstadt. Aber mehr noch: ich selbst habe als Kind (während des Kriegs gegen Bosnien-Herzegowina) über die gleiche Strecke flüchten müssen, die auch heute genutzt wird. Durch Turanj fließt der Fluss Korana, den ich vor 25 Jahren während des Krieges in Bosnien-Herzegowina illegal mit meiner Mutter und meiner älteren Schwester überquert habe.

Während die HelferInnen Burek essen und Zigaretten rauchen, gehe ich einige Schritte weiter und erlebe ein Déjà-vu. Zwei Häuser rechts neben der Bäckerei befindet sich die Unterkunft, in der wir uns während der Flucht versteckt haben. Es war damals ein unfertiges Haus, ohne Parkett, Heizung oder Wasser. Die Einschusslöcher sind immer noch in der Fassade sichtbar.

Damals war Turanj nur eine Übergangslösung für uns, da die Grenzen dicht waren. Wir wollten weiter nach Österreich, wo mein Vater auf uns wartete. Heute ist Bihać genauso eine Zwischenstation für Flüchtlinge aus Syrien, Pakistan, Indien oder Afghanistan, die in die Europäische Union weiterziehen wollen. Ihr "Sprungbrett" ist Vučjak, das sich etwa zehn Kilometer von der nordwestlich gelegenen bosnischen Stadt Bihać befindet und nur wenige Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt liegt.

Hier sind etwa 500 bis 1000 geflüchtete Personen untergebracht, die Zahl variiert, da viele täglich versuchen, die kroatische Grenze zu überqueren. Das Flüchtlingslager Vučjak, das seit Mai 2019 besteht, wird lediglich von der Stadt selbst finanziert. Nun will die Gemeinde Bihać aber auch nicht mehr die Kosten für das Lager tragen, weshalb die zivile Bevölkerung beginnt, sich vermehrt einzubringen. So auch die HelferInnen aus Österreich.

Die Zelte im Flüchtlingslager sind nicht winterfest. 

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Die Welt schaut zu

Die Lage in Vučjak spitzt sich immer mehr zu, einerseits weil das Lager geschlossen werden soll, andererseits weil der Winter anrückt und die Zelte nicht winterfest sind. "Uns geht das Essen aus, wir haben keine Decken und auch keine Wintersachen zum Austeilen", sagt Adnan, ein freiwilliger Helfer vom Roten Kreuz. Seit vier Monaten arbeitet er in Vučjak und hat bereits 80 JournalistInnen durch das Flüchtlingslager geführt, unter anderem auch BBC. Im Flüchtlingslager gibt es keine medizinische Versorgung, erzählt er. Wenn jemand verarztet werden muss, wird er in die nächste Ambulanz geschickt.

Das Areal ist mit Schottersteinen versehen, auf denen Zelte stehen, die teils von türkischen Hilfsorganisationen gespendet wurden. Für rund 500 Menschen gibt es acht Toiletten, provisorische Duschen, einen Greißler mit Snacks und Zigaretten, sowie ein kleines Restaurant. An einigen Feuerstellen werden Paratha, indisches Fladenbrot, und Kartoffeln gebraten. Der Geruch von Urin und Rauch liegt in der Luft. Die Zustände erinnern mich an das Flüchtlingslager Batnoga in Kroatien, in dem ich vor 25 Jahren mit meiner Familie untergebracht war. Tausende Menschen wurden in einer ehemaligen Hühnerfabrik zusammengepfercht, wo gekocht, gegessen und geschlafen wurde. Privatsphäre und Toiletten gab es keine. Die Bedingungen für Geflüchtete sind hier nach wie vor dieselben: menschenunwürdig.

Geflüchtete kochen in Vučjak

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Im Camp gäbe es keine Zwischenfälle, weder bei der Essensausgabe noch bei der Verteilung von Kleidung. "Wenn die Flüchtlinge sagen, dass sie Hunger haben, dann haben sie wirklich Hunger. Das beruht auf Gegenseitigkeit, wenn wir ihnen sagen, dass wir kein Essen mehr für sie haben, dann glauben sie uns auch", sagt Adnan. Aus einem Augenwinkel sehe ich einen Mann, der auf eine subtile Weise seinen Daumen, seinen Zeige- und Mittelfinger aneinander reibt. Er deutet an, dass er Geld braucht. In meiner Geldtasche habe ich 20 Euro und überlege, wie ich es ihm unauffällig zustecken kann. Meine Gedanken werden von Ahmed, einem Flüchtling aus Indien, unterbrochen.

Er ist seit 2017 auf der Flucht und hat vier Kinder. Fünf Mal hat er versucht, die kroatische Grenze zu überqueren. "Ich wurde jedes Mal zurückgeschickt. Die kroatischen Beamten zerschneiden uns unsere Rucksäcke und nehmen uns die Handys wegen des GPS weg, damit wir den Weg nicht finden", sagt Ahmed. Er will sich das Leid von der Seele reden. Die Bedingungen im Lager seien schwierig, sie teilen sich derzeit zu dritt oder viert eine Decke. In Bihać seien die Menschen freundlich und hilfsbereit. "Ab und an geben sie uns auch Geld, damit wir was zu essen kaufen. Es gab bisher keine Probleme mit der einheimischen Bevölkerung", so Ahmed. Da fiel mir wieder der Mann mit der Geld-Geste ein. Ich schaue wieder an die Stelle, an der er stand. Er ist nicht mehr da.

Provisorische Duschen für Geflüchtete in Vučjak. 

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Etwa 20 Männer umzingeln mich und wollen mir ihre Geschichten erzählen. Einer zeigt mir eine Verletzung an der Schulter, die kroatische Polizei habe auf ihn eingeschlagen. Einem anderen haben sie die Hosentaschen zerschnitten und ihm das Geld abgenommen. Milad, ein Iraner mit einem tätowierten Auge auf dem Hals, erzählt von seinen Freunden, die auf der Flucht verstorben sind. Einer sei in Bihać von einem Gebäude gestürzt.

"Die Medien haben geschrieben, dass er betrunken war, aber das war er nicht", sagt Milad, der über die serbische Grenze nach Bosnien gekommen ist. Er war bereits in Deutschland und wurde abgeschoben. Für Adnan steht fest, er wird bis zum Schluss mit den Geflüchteten in Vučjak ausharren. "Auf mich wartet ein warmes Haus, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, während die Menschen hier schutzlos der Kälte ausgeliefert sind. Die Welt schaut zu und dreht uns einfach den Rücken zu", so Adnan, als ich mich von ihm und den Flüchtlingen verabschiede.

 

Spielball der Politik

Mitte Oktober drohte der Bürgermeister von Bihać, Šuhret Fazlić, die Wasserversorgung und die Essenslieferung des Camps in Vučjak abzudrehen. Damit möchte er die höhergestellten Verwaltungseinheiten dazu bringen, die Finanzierung des Lagers zu übernehmen. "Wir sind nicht mehr in der Lage konstruktiv über das Problem nachzudenken. Weder ich als Bürgermeister noch der Stadtrat können die Situation lösen, da uns ein Gerichtsstand und die nötigen Mittel dazu fehlen, um Vučjak aufrechtzuhalten", erklärt Fazlić, Ortschef der 61.000-EinwohnerInnen-Stadt in einem Exklusiv-Interview mit k.at. Das Areal, auf dem sich das Camp Vučjak befindet, war einst eine Mülldeponie, die seit 1998 nicht mehr genutzt und seitdem saniert wurde.

Die EU sei gegen diese Lokalität gewesen, da es nicht den Standards entspricht, weil das Gebiet von Minen umgeben ist und sich in der Nähe der kroatischen Grenze befindet. "Der wahre Grund, weshalb die EU das Flüchtlingslager finanziell nicht unterstützen möchte, ist, dass sich Kroatien quer stellt, da sich Vučjak vor ihrer Tür befindet", so Fazlić. Er wirft der Europäischen Union Heuchelei und Scheinheiligkeit vor, da sie die eigenen Interessen und die Interessen Kroatiens rücksichtslos schützt. Sie wollen, dass die Flüchtlinge in Bosnien-Herzegowina bleiben.

Šuhret Fazlić nimmt die Präsidentschaft Bosnien-Herzegowinas, das Ministerium für Zivile Angelegenheiten und das Ministerium für Sicherheit in die Pflicht.

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"Der bosnisch-herzegowinische Staat sollte sich um diese Angelegenheit kümmern und nicht nur der Bürgermeister oder der Stadtrat von Bihać. Seit zwei Jahren werden wir mit dieser Problematik alleine gelassen und tragen die volle Verantwortung für die Flüchtlinge", erklärt Fazlić. Er nimmt die Präsidentschaft Bosnien-Herzegowinas, das Ministerium für Zivile Angelegenheiten und das Ministerium für Sicherheit in die Pflicht.

"Meine Strategie als Bürgermeister ist, dass wir hier überleben. In unserer Gemeinde gibt es sehr große Probleme, wenn der Staat nicht eingreift, könnte es auch Krieg geben", sagt Fazlić. Sowohl auf staatlicher als auch EU-Ebene müssen Maßnahmen unternommen werden, um die Situation in Bihać in den Griff zu bekommen. "Würde die EU ein Zehntel der Gelder, die sie in den Schutz der kroatischen Grenzen steckt, für die Versorgung der Flüchtlinge zur Verfügung stellen, wäre die Situation um einiges besser", fügt er hinzu. Fazlić selbst war noch nicht im Flüchtlingslager Vučjak und schiebt die Verantwortung weiter Richtung EU.

Verpönte Hilfe

In nördlichen Teil Bosnien-Herzegowinas gibt es mehrere Camps, in denen Flüchtlinge untergebracht sind. Bis auf Vučjak stehen sie unter der Leitung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR oder der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Im Camp Sedra in der Stadt Cazin befinden sich etwa 400 Geflüchtete, in der Lagerhalle Bira in Bihać rund 1500 und in Borići, ebenfalls Bihać, befinden sich rund 400 Geflüchtete. Derzeit kann die genaue Zahl an geflüchteten Menschen in Nordbosnien nicht festgelegt werden, da täglich neue Gruppen dazu kommen. Die bosnischen Behörden gehen von 4000 bis 5000 geflüchteten Personen aus.

Die HelferInnen aus Wien wollen die Spenden in verschiedene Flüchtlingslager bringen und so möglichst vielen Menschen helfen. Sie wenden sich an lokale Freiwillige, die die Distribution übernehmen sollen. Kid Pex hat deshalb bereits im Vorfeld vertrauenswürdige HelferInnen ausfindig gemacht. Um kurz vor zwei in der Früh parken wir vor dem Haus, wo Sabiha wohnt, eine Freiwillige aus Velika Kladuša. Sie nimmt Jacken, Decken und Winterschuhe entgegen, die sie an Flüchtlinge verteilen will. Sie erzählt, dass die Flüchtlinge in Bosnien-Herzegowina 2017 mit offenen Armen empfangen wurden und dass die Hilfsbereitschaft am Anfang sehr groß war. Das erinnert mich sehr stark an die Lage in Österreich 2015.

"Mein Badezimmer war ein öffentliches Bad für Migrantinnen. Ich habe Frauen und Kinder täglich von Flüchtlingszentren abgeholt, damit sie bei mir duschen und sich erholen können. Die Sanitäranlangen in den Lagern sind sehr schlecht, vor allem für Frauen gab es keine Privatsphäre", sagt Sabiha. Doch die Stimmung kippte – auch das erinnert an Österreich. "Die Medien haben dazu beigetragen", erklärt Sabiha. Die Berichterstattung hätte Flüchtlinge als TerroristInnen und IS-KämpferInnen abgestempelt und Angst in der heimischen Bevölkerung gesät. Ihre NachbarInnen sehen es nicht gerne, dass sie geflüchteten Menschen hilft. Nach einem kurzen Aufenthalt bei der Helferin haben alle geparkten Fahrzeuge des Hilfskonvois Strafzettel bekommen. Die NachbarInnen haben die Polizei informiert.

Ich muss an die Menschen denken, die meiner Familie und mir während und nach unserer Flucht in Österreich geholfen haben und sich nicht von den Medien und Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen haben leiten lassen. Wir waren auf das Mitgefühl und die Bereitschaft anderer angewiesen, uns aufzunehmen. Die Menschen in Vučjak sind auf die Politik in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und der EU angewiesen, die weder Mitleid noch Interesse an der kritischen Lage zeigen

Bis also alternative Maßnahmen ergriffen werden, werden ZivilistInnen wie Sabiha in Bosnien oder Kid Pex in Österreich sich bemühen zu helfen. Aber die Kapazitäten sind begrenzt. "Wir waren am Anfang eine Gruppe von 30, die ausgeholfen haben“, sagt Sabiha. Übrig geblieben sind sie und eine Freundin. "Ich bin am Ende – aber ich kann nicht aufhören zu helfen“, fügt Sabiha zum Schluss hinzu.