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Weltflüchtlingstag 2021: Die Geschichte einer Flucht

Von Bosnien nach Österreich: So fühlte sich in den 90er-Jahren eine Flucht an, die auch mit der Ankunft nicht endete.
Adisa Beganovic Adisa Beganovic

In Turanj, einem kleinen Vorort der kroatischen Stadt Karlovac, lernte ich als 9-jähriges Mädchen Mitte der 90er-Jahre eine wichtige Lektion: Flucht endet nicht mit dem Verlassen der Kriegszone.

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Meine Mutter, meine ältere Schwester und ich hatten zwar die Gefechte in unserer Heimat, Bosnien und Herzegowina, hinter uns gelassen, waren aber dadurch noch lange nicht in Sicherheit.

Die Realisation kam, nachdem wir mehrere Monate in der sichtlich vom Krieg gezeichneten Ortschaft verbracht hatten. Das Haus, in dem wir Zuflucht fanden, war von Einschusslöchern übersät. Obwohl Spätsommer war, war es darin kalt. Sauberes Wasser gab es nur vom Wasserhahn im Hof. Nahrung bekamen wir von einer Hilfsorganisation, ärztliche Versorgung wurde in einem weißen Zelt des Roten Kreuzes angeboten.

Es gab nicht viel zu tun, außer auf die Brücke, die über den Fluss Korana führt, zu starren und zu warten. Sie diente als Checkpoint und war immer von Soldaten bewacht. Als Flüchtlinge durften wir sie nicht überqueren. Auf der anderen Seite befand sich aber unser Vater (er zog noch vor dem Krieg nach Österreich, um Arbeit zu suchen), der uns aufgrund der Grenzschließungen nicht besuchen konnte. Das hat die Kriegsjahre noch einmal mehr erschwert.

Drei Jahre im Ausnahmezustand

Drei Jahre lang lebten wir in Bosnien in einem Ausnahmezustand. Beinahe täglich hörten wir, dass Verwandte, Nachbarn oder Freunde getötet oder verwundet wurden. Supermärkte wurden schon zu Beginn des Krieges geschlossen oder leergekauft. Wegen der Inflation wurden Grundnahrungsmittel zu einem Luxus, wenn es sie überhaupt gab. Erst viel später kamen Hilfsorganisation, um Nahrungsmittel zu verteilen. Strom und Wasser gab es nur an bestimmten Tagen, die man dann nutzte, um die Wäsche zu waschen oder die Nachrichten zu verfolgen.

Der Kontakt zu meinem Vater verlief in dieser Zeit sporadisch, weil die Telefonleitungen gekappt wurden. Das war für mich der schwerste Teil. Ich schrieb meinem Vater deshalb Briefe, von denen ich nach wie vor einige habe. Ich verstand nicht, warum ich ihn nicht sehen konnte.

Als Kind braucht man ohnehin eine Weile, um mit der Situation, in der man sich befand, gewahr zu werden. Ich kann mich immer noch an die Granaten und Schüsse, die man von Kriegsanfang hören konnte, erinnern, doch für mich symbolisierten sie eine schulfreie Zeit. In all dem Chaos, in all der Unsicherheit und Armut wollte ich meinen Geburtstag feiern und alle Kinder aus der Nachbarschaft einladen, dabei hatten wir nicht einmal genügend Brot für uns selbst, geschweige denn Torte, Chips oder sonstige Party-Snacks.

Rückwirkend betrachtet war meine Naivität wohl auch ein Schutzmechanismus, um mit der Realität fertig zu werden. Für meine Mutter sah die Sache aber anders aus. Die ungewisse Situation nagte an ihrer Psyche. Erst Jahrzehnte später verstand ich, welcher Bedrohung wir während des Krieges ausgesetzt waren: Hunger, Armut, Unsicherheit und der Tod waren nur einige der Begleiterscheinungen, die man im Zuge der Flucht erfahren musste.

Als 1995 die Grenzen zu Kroatien kurzzeitig geöffnet wurden, entschied meine Mutter, uns in Sicherheit – zu meinem Vater nach Österreich – zu bringen. Turanj war ein notwendiger Zwischenstopp. Dort waren wir zumindest in der Nähe meines Vaters, der es ab und schaffte, uns Geschenke über Fremde, die die Brücke überquerten, zu schicken.

Ankunft in Österreich

Obwohl wir ihn nicht sehen konnten, stellten seine Mitbringsel ein Stück Normalität für uns dar. Erst Monate später gelang es uns, sicher in Österreich bei meinem Vater anzukommen. Doch damit war unsere Flucht noch nicht abgeschlossen. Wir mussten uns in einer neuen Umgebung zurechtfinden, eine fremde Sprache lernen, eine Wohnung und Jobs für meine Eltern aber auch eine neue Schule und neue Freunde finden.

Das waren mühsame Zeiten. Es dauert Jahre, bis man seine Erlebnisse verarbeitet und das Gefühl bekommt, dass die Flucht endlich vorbei ist. Wenn ich heute mit Menschen aus meiner Umgebung, die ebenso nach Österreich flüchten mussten, über den Krieg rede, dann meiden es die meisten, aus Scham oder Verdrängung an dieses dunkle Kapitel zurückzudenken. Und ich verstehe sie vollkommen.